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Cop

Cop

Titel: Cop
Autoren: R Jahn
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Also nickt er, auch wenn er weniger Henry meint als sich selbst, und legt die 11-87 auf den Boden. Als er sich wieder aufrichtet, flimmern schwarze Punkte vor seinen Augen. Das Licht verflüchtigt sich aus dem Himmel, als würde die Sonne im Zeitraffer untergehen. Gleich wird er in Ohnmacht fallen, er wird umkippen wie eine Lady in einem alten Film, deren Korsett zu eng geschnürt ist, nur dass ihm keine Gentlemen mit Fächern zur Hilfe eilen werden. Eine Endlosschleife aus zwei Worten dreht sich durch seine Gedanken: Nicht jetzt nicht jetzt nicht jetzt nicht jetzt.
    Und tatsächlich gelingt es ihm, bei Bewusstsein zu bleiben. Er hält sich gerade so auf den Beinen. Das Licht kehrt in den Himmel zurück wie eine Flüssigkeit, die über eine umgedrehte Glasschüssel geschüttet wird.
    »Bist ein schlauer Kerl«, meint Henry.
    »Nein«, sagt Maggie. »Nein!«
    Gleichzeitig rammt sie beide Ellenbogen nach hinten. Als der linke in Henrys Bauch versinkt, platzt ein merkwürdiger Laut aus seiner Kehle, eine Art Bellen wie von einer tollwütigen Bulldogge. Sein Griff lockert sich, Maggie schüttelt ihn ab und rennt weg, rennt zu Ian, eine Mischung aus Panik und Euphorie in den Augen.
    Henry reißt die Pistole hoch. »Bleib stehen, oder ich …«
    Weiter kommt er nicht, denn Ian greift nach hinten, wobei ein heftiger Schmerz von seiner Brust in den Rücken zuckt, als hätte man ihm einen heißen Schürhaken hineingerammt, und zieht die Pumpgun aus dem Hosensaum, schwingt den Lauf herum, bis er auf Henry zeigt, und drückt ab. Das Geschehen schaltet in Zeitlupe. Zuerst geht alles viel zu schnell: der Ellenbogen, das Bellen, die rennende Maggie. Doch als er die Pumpgun in den Fingern spürt, bremst die Zeit ab, als hätte sich eine zähflüssige Honigschicht auf alle Beteiligten gelegt. Maggie scheint zwischen ihren Schritten in der Luft zu hängen, und Henrys Arm bewegt sich langsam, ganz langsam nach oben, und seine Worte klingen wie eine 78er-Schallplatte, die mit 33 1 / 3 Umdrehungen abgespielt wird. Dafür knallt der Schuss umso lauter. Ian sieht, wie der Lauf die Kugel ausspuckt, gefolgt von ein paar Krümeln Schwarzpulver, die in der Luft verglühen, er sieht, wie sich ein dünner blauer Rauchfaden in die Höhe windet. Dann der Einschlag. Knackende Knochen. Ein Loch bohrt sich in Henrys Kopf, knapp über der rechten Augenbraue, groß genug, um einen ausgewachsenen Daumen hineinzubohren. Der Haaransatz dellt sich ein wie eine leere Bierdose, der Inhalt des Schädels verteilt sich auf dem sonnengebleichten Asphalt. Ein bisschen was spritzt auch auf Beatrice’ Gesicht, auf ihre Haare und ihr Kleid.
    Im nächsten Moment springt Maggie an ihm hoch. Ian bückt sich und schließt sie in die Arme, sie drückt sich an ihn und küsst ihn und sagt: »Du blutest ja, Daddy, du blutest ja«, während er ihre Wangen und ihre Stirn und ihren Mund küsst, während er ihren Herzschlag an seinem Bauch spürt. Seine Augen werden nass, zum ersten Mal seit langer Zeit kann er wieder richtig weinen.
    Und Henry fällt hin. Blut ergießt sich aufs Pflaster, als würde sich eine rote Decke unter ihm ausbreiten.
    »Maggie«, flüstert Ian. »Meine Maggie.«
    Da sieht er, wie sich Beatrice nach Henrys Pistole bückt. Ian reißt die Pumpgun hoch – doch er erkennt sofort, dass sie aufgegeben hat. Als sie die beiden anschaut, Vater und Tochter, füllen sich ihre Augen mit Tränen. »Es tut mir leid«, sagt sie. Dann steckt sie sich die Pistole in den Mund.
    Es ist eine Halbautomatik, und das Ding ist entsichert. Beatrice muss nur abdrücken.
    Diego tritt auf die Straße. Ian und Maggie warten auf ihn, ihre kleine Hand in seiner großen Hand. Ian blickt zu ihr hinab und lächelt, sie blickt zu ihm herauf und lächelt ebenfalls. Auch ihre Augen lächeln, ihre grünen Augen, die einem das Herz brechen können, wenn sie es darauf anlegt. Noch kann er kaum fassen, dass er tatsächlich ihre Hand hält, die Hand seiner Tochter, seines kleinen Mädchens. Seiner Maggie. Er erinnert sich, wie er sie am Tag ihrer Geburt im Arm gewiegt hat. Wie er an ihrem Bettchen gestanden hat, um ihr beim Schlafen zuzuschauen. Wie sich ihre winzige Faust zum ersten Mal um seinen Zeigefinger geschlossen hat. Wie er ihr die Windeln gewechselt hat. Wie er ihr das Fläschchen gegeben hat. Was auch immer passieren wird – er weiß, was er getan hat, er weiß, welchen Preis er gezahlt hat, was aus ihm geworden ist. Und er weiß, dass er es wieder tun würde, wieder und wieder,
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