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Cop

Cop

Titel: Cop
Autoren: R Jahn
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wieder empfinden. Sie hat gedacht, die Sonne in ihrem Inneren wäre erloschen.
    Sie hat sich geirrt. Die Sonne war nur untergegangen. Jetzt geht sie wieder auf.
    Drei weitere Schüsse, schnell hintereinander, gefolgt vom langsam abklingenden Echo.
    »Henry ist bestimmt schon tot«, meint Maggie. »Du wirst allein im Gefängnis sitzen. Keiner wird dir schreiben. Keiner wird dich besuchen kommen.«
    »Hör auf, so zu reden!«, ruft Beatrice, stampft auf sie zu und schubst sie mit aller Kraft. Der Stuhl kippt zur Seite, verharrt einen Moment auf zwei Beinen im Gleichgewicht und kracht dann auf den Boden. Als Maggie mit dem Ellenbogen aufschlägt, vibriert ein stechender Schmerz durch ihren Körper, ein merkwürdiges Zittern schießt ihren Arm hinauf. Den Ringfinger und den kleinen Finger spürt sie nicht mehr.
    Sofort ist Beatrice neben ihr und versucht, den Stuhl wieder aufzurichten, mit Maggie auf der Sitzfläche. Sie muss sich ziemlich abmühen, aber irgendwann hat sie es geschafft. Mit der freien Hand reibt Maggie sich den Ellenbogen. Wenn sie doch nur aus den Handschellen schlüpfen, sich die Pistole schnappen und abhauen könnte! Daddy ist hier, aber sie kann doch nicht einfach rumsitzen und darauf warten, dass er sie rettet. Sie hat viel zu lang gewartet, damals im Keller, im Albtraumland, eine ewig lange Nacht hindurch, die längste Nacht ihres Lebens, und sie wird nicht zulassen, dass die Nacht noch länger dauert. Deshalb wird sie nie wieder rumsitzen und warten.
    »Es tut mir leid«, wimmert Beatrice. »Das hab ich nicht gewollt. Es tut mir so leid.« Sie streicht ihr übers Haar und presst Maggies Stirn an ihren fetten Bauch. »Es tut mir so leid.«
    Maggie schüttelt sie ab. »Lass mich in Ruhe.«
    »Bald haben wir es überstanden«, beteuert Beatrice. »Dann wird alles gut.«
    »Ich will nicht mit dir reden. Nie mehr.«
    Beatrice wischt sich mit der Hand über die Augen, geht zum Fenster und schaut raus. »Das darfst du nicht sagen. Du meinst es doch gar nicht so.«
    »Doch. Ich meine es so.«
    Für einen Moment dreht Beatrice sich um und mustert sie, bevor sie wieder aus dem Fenster schaut. Sie steht da und starrt in die Dämmerung.
    Maggie betrachtet ihr Handgelenk. Wieder versucht sie, ihre Finger durch den Ring zu zwängen. Bis zum Daumen ist es kein Problem, aber dann ist Schluss. Egal wie sehr sie sich anstrengt, sie kommt keinen Millimeter voran. Das Metall gräbt sich nur immer tiefer in ihr Fleisch.
    Vor Enttäuschung schlägt sie mit der freien Hand auf das Schreibbrett, dessen anderes Ende dabei hochspringt und wieder runterknallt. Das Brett sitzt locker. Mit einem Blick auf Beatrice – nein, sie schaut nicht herüber – drückt Maggie es nach oben, so weit sie kann, und begutachtet die Unterseite: Zwei Schrauben sind aus dem Material herausgebrochen, wahrscheinlich vorhin, als der Stuhl umgekippt ist. Es fehlt nicht viel, und sie könnte den Metallring einfach von der Stange schieben. Sie muss ihre Hand nicht durch die Handschelle quetschen, sie muss bloß das Schreibbrett abmontieren. Und dazu muss sie nur noch eine Schraube entfernen. Dann ist sie frei.
    Beatrice starrt noch immer mit traurigem, schlaffem Gesicht aus dem Fenster. Wieder spürt Maggie Mitleid mit ihr. Sie wirkt so einsam, so leblos, als würde sie ganz viel Liebe brauchen. Und trotz allem, was sie ihr angetan hat, sehnt sich ein Teil von Maggie immer noch danach, ihr diese Liebe zu geben. Aber sie kann nicht. Sie kann sie ja nicht mal besonders gut leiden. Das einzige Gefühl, das sie für Beatrice empfinden kann, ist diese seltsame Mischung aus Mitleid und Hass.
    Sie biegt das Schreibbrett nach oben. Bald hat sie es geschafft.
    Henry liegt auf dem Dach des Schulgebäudes. Eine ganze Weile schon. Er liegt da und späht auf den roten Mustang, wo sich seit einiger Zeit nichts mehr getan hat, und fragt sich, was die beiden da unten nur machen. Seine Arme verkrampfen sich bereits, lange kann er die Position nicht mehr halten. Außerdem irritiert es ihn, dass sich überhaupt nichts rührt. Die können sich doch nicht bis in alle Ewigkeit hinter dem Auto verstecken, irgendwann müssen sie doch handeln. Warum erwidern sie das Feuer nicht? Ein, zwei Schüsse, und er wüsste, wo sie sind. Und sobald sie das nächste Mal auftauchen, wären sie erledigt. Ganz einfach.
    Oder sind sie vielleicht schon erledigt? Zeigen sie sich deshalb nicht? Nein. Bestimmt nicht. Wer so denkt, hat schon verloren. Wer unvorsichtig wird, hat bereits sein
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