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Cop

Cop

Titel: Cop
Autoren: R Jahn
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umzudrehen, »da war ich zwölf oder so, hab ich in der Pause immer mit ein paar älteren Typen rumgehangen. Einmal sind wir rüber zu einem Typen, der auf einer Picknickbank neben dem Basketballplatz saß, ein ganz normaler Junge, ungefähr so alt wie ich. Er hat ein Buch gelesen, irgendwas von Stephen King. Meine Kumpels haben angefangen, ihn zu verarschen. ›Coole Schuhe‹, hat einer von ihnen gesagt. Dabei hatte er billige Plastiksportschuhe an, die oben schon Risse hatten. Er hat ›Danke‹ gesagt, aber ich hab gehört, wie seine Stimme gezittert hat. Das hör ich noch ganz genau, dieses Zittern in seiner Stimme. ›Sag mal, woher hast du die?‹, hat ein anderer gefragt, ›aus dem Müll?‹ Und so weiter. Ich stand einfach nur daneben. Kann sein, dass ich sogar ein bisschen mitgemacht hab, ich wollte halt dazugehören. Aber ich hab mich geschämt, Ian, ich hab mich die ganze Zeit geschämt. Ich fühlte mich von Grund auf schlecht. Das hab ich nie vergessen.«
    Am Ortseingang drückt Ian auf die Bremse. Langsam rollen sie an einer verlassenen Tankstelle vorbei, vor der ein umgekippter Cola-Automat liegt oder was noch davon übrig ist. Gefallene Zivilisation. Totes Gras ragt aus Rissen im Asphalt. Dann passieren sie einen Supermarkt, auch er verwaist.
    »Mein Gott«, sagt Diego. »Wie eine Vorschau auf den Jüngsten Tag.«
    Ian nickt. »Wir müssen uns vorsehen. Ich hab gar kein gutes Gefühl dabei, hier einfach so reinzufah…«
    Klack.
    Zuerst kapiert Ian überhaupt nicht, was geschehen ist – bis er das kleine Loch in der Mitte der Windschutzscheibe entdeckt. Er sieht Diego an. Diego sieht ihn an.
    »Du blutest am Ohr«, meint Diego.
    Ian betastet sein rechtes Ohr. Ein stechender Schmerz, Blut an seiner Hand. Er dreht sich um und betrachtet die Kopfstütze: ein Loch, groß genug, um den kleinen Finger hineinzustecken. »Runter!«, brüllt er und duckt sich unters Armaturenbrett.
    Klack.
    Die Windschutzscheibe regnet auf ihn herab.
    Und Ian steigt aufs Gas. Sie müssen hier weg, raus aus der Schusslinie, und zwar sofort. Doch in seiner Panik würgt er den Motor schon nach wenigen Metern ab. Was jetzt? Die Schüsse scheinen von dem zweistöckigen Gebäude im Nordosten zu kommen. Sie müssen den Wagen zwischen sich und den Schützen bringen. Also stößt er die Fahrertür auf und krabbelt raus auf die Straße. »Hier rüber. Und bleib verdammt noch mal unten.«
    Ein gewaltiger Schmerz jagt ihm durch die Brust.
    Er blickt an sich hinab: ein roter Fleck auf seinem Hemd, der sich rasch ausbreitet. Natürlich. Er hat den Katheter rausgerissen. Er hat ihn völlig vergessen. Der Schlauch hängt quer über dem Sitz, das Ende baumelt über dem schmutzigen Asphalt, eine rosafarbene Mischung aus Blut und Eiter tropft heraus. An der Mündung klebt noch der schwarze Faden, mit dem der Schlauch an der Brust fixiert war und der den Rand der Wunde nach oben gezogen hatte wie die dreieckigen Blätter einer hautfarbenen Tulpe. Ian atmet ein – ein Keuchen wie aus einem löchrigen Reifen. Schnell drückt er die Hand auf die Brust, damit nicht noch mehr Luft ausströmt. Jetzt kann er wirklich keine kollabierte Lunge gebrauchen.
    Klack. Klack.
    Zwei weitere Kugeln schlagen in den Wagen ein.
    Diego wirft sich neben ihm auf die Straße. »Hat er dich erwischt?«
    Ian schüttelt den Kopf. »Ich brauch eine Plastikfolie.«
    »Was?«
    Er schließt die Augen und verzieht das Gesicht. Als er die Augen wieder öffnet, kniet Diego über ihm, den Kopf unter die Motorhaube geduckt, und mustert ihn besorgt. »Im Wagen«, stößt Ian hervor. »Hinten im Fußraum, da müsste eine kleine Plastikfolie liegen. Die musst du mir bringen.«
    Diego nickt und krabbelt zurück in den Mustang.
    Klack. Klack. Klack.
    Im Wagen rührt sich nichts mehr.
    »Diego?«
    Immer noch nichts. Als Ian sich so gut wie sicher ist, dass Diego nicht mehr lebt, taucht er wieder auf, in der Hand eine rechteckige Plastikfolie, etwa fünfzehn mal sieben Zentimeter groß, mit zwei kleinen Aufklebern – auf dem einen steht THUNFISCH-CHEDDAR-SANDWICH , der andere wird größtenteils vom Strichcode ausgefüllt und informiert über den Preis: $ 4,99.
    »Die hier?«, fragt Diego.
    Er nickt. »Genau die.« Mit der rechten Hand knöpft er sich das Hemd auf, die linke presst er weiter auf das Loch in seiner Brust. »Okay. Es muss schnell gehen. Wenn ich die Hand wegziehe, haust du die Plastikfolie auf das Loch. Verstanden?«
    »Verstanden.«
    Ian befeuchtet sich die Lippen.
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