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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser
Autoren: Henry Slesar
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und fragte nach seiner Nichte.
    Schon hastete Mary die Treppe herab und sah dabei schöner aus, als Sophie sie seit Monaten gesehen hatte. Mary hatte das zarte Gesicht ihrer Mutter und die kräftigen schwedischen Knochen ihres Vaters, doch noch nie hatte die Mischung so reizvoll ausgesehen wie in diesem Augenblick.
    »Mary!« sagte Onkel Vernon und breitete die Arme aus. »Ach, Mary, mein Kind! Der Herr schließe dich in Sein Herz!«
    Ihr hastiger Lauf wurde von plötzlicher Scheu gebremst. Ja, das war Onkel Vernon, doch zugleich stand dort ein Fremder, viel kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte, der breite Kragen abgestoßen, die Krawatte zerknittert, ein runder Bauch, der die Weste zu sprengen drohte, die Augen blutunterlaufen und matt.
    Doch schon war der Augenblick vorüber, und sie fiel ihm strahlend in die Arme, zuerst lachend, dann weinend, und Onkel Vernons runde Hände tätschelten ihr tröstend den Rücken, während seine verquollenen Augen wie auf ein Stichwort Tränen verströmten.
    »Ach, mein Püppchen«, sagte er. »Ach, in welch trauriger Stunde sehen wir uns wieder, mein kleines Marypüppchen!«
    Eine Stunde später saß Onkel Vernon auf der Veranda und verschlang die zweite Portion Eier mit Speck. Es war ein Wunder, daß er überhaupt Zeit zum Essen fand, so viel redete er. Seine Gabel fuhr in der Luft herum und verdeutlichte die Satzzeichen, betonte die exotischen Namen, die über seine Lippen kamen, als wolle er sie an einer Weltkarte befestigen.
    »Bombay!« sagte er. »Hong Kong! Paris! Die Ginza in Tokio! Das Palladium in London! Meine abgestoßenen alten Schuhe haben mich mehr sehen lassen als manchen Schiffskapitän!«
    »Wo warst du zuletzt, Onkel Vernon?«
    »Nun, in Europa, mein Liebling, auf dem Kontinent. Zufällig hielt ich mich in New York auf, als ich die traurige Nachricht erhielt. Ich wollte mit meinem Agenten über … na ja, über etwas sehr Aufregendes sprechen … im Theater, meine ich.«
    »Was soll das heißen? Kommst du etwa nach Amerika zurück?«
    Er lachte leise und bestrich einen neuen Toast mit Butter. »Sogar wir alten Gespenster kehren dann und wann zurück. Ich wußte doch, der Broadway würde nicht ewig ohne Varietekünstler auskommen!«
    »Das wäre ja wunderbar! Wir könnten uns oft sehen. Mußt du bald wieder nach New York?«
    »N-e-i-n – solche Dinge brauchen ihre Zeit. Mein Agent hat versprochen, mich hier anzurufen, sobald er etwas erfährt. Du mußt deinen alten Onkel also schon ein Weilchen ertragen.«
    »Solange du willst«, sagte Mary fröhlich. »Je länger, desto besser.«
    Sophie, die an der Tür stand, verschränkte die Arme.
    In den folgenden Tagen glich Sophie einer Katze, die geduldig vor dem Mauseloch auf den ersten falschen Schritt der Maus wartete. Aber Onkel Vernon war eine erfahrene alte Maus, und in den ersten beiden Wochen war er ein Muster von Hausgast. Wenn er es sich ein bißchen zu gemütlich machte, wenn er mehr aß, als ein gewöhnlicher Appetit rechtfertigte, so war das doch eigentlich kein Grund zur Klage. Sophie wartete ab.
    Es war Mr. Bogash, der die Maus zum erstenmal aufs Glatteis lockte. An dem Abend, da der Anwalt seinen Besuch machte, war Onkel Vernon zufällig in der Stadt. Er hatte nicht lange gebraucht, um festzustellen, wie gemütlich es in der Taverne des Ortes war – im Schwertfisch.
    Mr. Bogash erwähnte Onkel Vernon erst, als die wichtigsten geschäftlichen Dinge erledigt waren. Mary mußte Papiere unterschreiben, zahlreiche Dokumente voller Formulierungen, die sie nicht begriff. Schließlich hob Mr. Bogash geziert seine Kaffeetasse und sagte: »Ach, übrigens, dieser Onkel von Ihnen …«
    »Danach wollte ich Sie schon fragen«, sagte Mary. »Natürlich erwähnt Daddy ihn in seinem Testament nicht; wir alle hielten ihn für tot.«
    »Nein«, sagte der Anwalt. »Ihr Vater wußte durchaus, daß er noch lebte. Das Testament sieht absichtlich kein Legat für ihn vor, auch hat er keinerlei Anspruch darauf, egal was man Ihnen erzählt haben mag.«
    »Mir erzählt?«
    »Ich dachte, Ihr Onkel hätte vielleicht davon gesprochen.«
    »Nein, kein Wort. Wie kommen Sie darauf?«
    Bogash räusperte sich. »Nun, er hat mich besucht.«
    »Onkel Vernon?«
    »Ja. Er sprach gestern nachmittag in meinem Büro vor, um sich nach dem Erbe zu erkundigen. Ich habe ihm dasselbe gesagt wie eben Ihnen.«
    »Wußte ich es doch!« sagte Sophie triumphierend. »Nur deshalb ist er wieder aufgetaucht – um zu sehen, was für ihn dabei
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