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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser
Autoren: Henry Slesar
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böses Vorzeichen.
    Sie riß den Brief in solcher Erregung auf, daß auf der zweiten Seite einige Worte verlorengingen.
    Der Rest des Briefes lautete:
     
    Liebste Vel,
    Es tut mir leid, daß ich nicht eher geschrieben habe, aber die Umstände haben es verhindert. Sylvia und ich sind gerade aus Big Sur zurück, wo wir in einer Kommune gelebt haben, in der es ehrlich unmöglich war, Männlein und Weiblein voneinander zu unterscheiden, jedenfalls mit den Augen. Dies liegt daran, daß die männliche Hälfte der Kommune (ich gehe davon aus, daß es ungefähr die Hälfte war) beschlossen hatte, Bärte wären dieses Jahr nicht in Mode, während langes Haar »in« blieb. Es wird Dich interessieren zu erfahren, daß ich einen herrlichen braunen Bart habe, der mir eine gewisse Ähnlichkeit mit Walt Whitman gibt, glaube ich, nur jünger und hübscher, wenn Du die Eitelkeit verzeihst. Sylvia unterscheidet sich völlig von der Frau, die vor zwei Monaten mit mir ins große Abenteuer aufbrach. Sie hat seit der ersten Woche kein bißchen Make-up mehr getragen (sie hatte ein halbes Dutzend Töpfchen mit, die sie aber bald fortwarf). Trotzdem hat sie nie besser ausgesehen. Ihre Haut ist walnußbraun, doch pfirsichglatt. Sie hat mindestens zehn Pfund abgenommen, und ich hatte zuerst gedacht, daß sie wie eine Vogelscheuche aussehen würde, aber sie macht sich irgendwie sehr gut. Sie freut sich sehr über ihre tolle neue Figur, doch seltsamerweise hat sie es aufgegeben, in diesem Zusammenhang immer gleich an die Kleidung zu denken, in die sie ihren Körper hüllen möchte. Halston und Yves St. Laurent und Madame Gres sind ihr inzwischen völlig gleichgültig, ebenso die vornehmen Restaurants oder die Teilnahme bei tollen Parties. Genaugenommen interessiert sich Sylvia kaum noch für die Dinge, die ihr in ihrem »schönen Leben«, unentbehrlich waren. Das Wichtigste, das ich dir mitteilen möchte, ist jedoch der Umstand, daß Sylvia glücklich ist. Ich meine, sie ist glücklich, Vel, nie in ihrem Leben ist sie glücklicher oder zufriedener gewesen. Seit unserer Abreise (mit genau vierhundertundzwölf Dollar in den Taschen und dem festen Entschluß, damit zwei Monate lang auszukommen) hat sie in ihrem Inneren eine völlig neue Persönlichkeit entdeckt, einen Gefangenen, der sich nach der Befreiung sehnte und die Welt so sehen wollte, wie sie wirklich war. Ich kann Dir unmöglich schildern, wie diese beiden Monate gewesen sind. Kannst Du Dir vorstellen, zum Abendessen als Hauptgang Ziegenfleisch zu essen oder zwei Nächte hintereinander in einem Heuschober zu schlafen, oder in einem Güterwagen zu fahren mit drei betrunkenen Tramps, die die ganze Nacht hindurch einen fürchterlichen Lärm mit ihren Mundharmonikas machen, oder Dich als Apfelpflücker zu verdingen und dabei so viele Äpfel zu essen, daß Du in deinem ganzen Leben keinen Apfel mehr sehen möchtest, oder Dich mit einer Bande Rock-and-Roll-Musiker anzufreunden, die uns in ihrem Bus bis nach Charlotteville, North Carolina, mitnahmen, volle neunzig Kilometer weit? Vel, ich kann Dir jetzt nicht alles erzählen; für den kompletten Bericht ist später noch Zeit. Du brauchst im Augenblick nur zu wissen, daß ich getan habe, was ich für richtig hielt, daß ich tat, was ich meiner Meinung nach tun mußte. Jetzt ist alles aus und vorbei, und Sylvia und ich kommen nach Hause. Sie ist ein anderer Mensch geworden, Vel, ein viel glücklicherer Mensch, doch ich wollte Dir sagen, daß ich mich nicht geändert habe – nicht im Hinblick auf die Dinge, die mir wichtig sind. Du weißt sicher, was ich meine. Rechne also erst in ein paar Tagen mit mir. Den Grund wirst Du bald erkennen. Bis dahin schicke ich Dir liebste Grüße, und vergiß nicht, diesen Brief zu verbrennen.
    Werther.
    P. S.: Ich habe Dich gebeten, den Brief zu verbrennen. Worauf wartest Du noch?
     
    Velvet verbrannte den Brief.
    Genau eine Woche später las sie vom tragischen Tod von Sylvia Oaks. Nur eine Zeitung, die News , hielt die Meldung für so wichtig, daß man außerhalb der Nachrufspalte darauf einging, doch in allen Zeitungen, die überhaupt eine Meldung brachten, wurde sie »Millionenerbin« genannt. Die Times brachte sogar ihr Bild, offensichtlich aus der Zeit vor der make-uplosen, walnußbraunen Periode. Der größte Teil des Nachrufs galt ihrem Vater, nicht ihr; eine traurige, unverdiente Kränkung, überlegte Velvet. Als Ursache für den Tod war eine Überdosis Schlaftabletten angegeben. Sie hinterließ ihren
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