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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser
Autoren: Henry Slesar
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Drei Meilen bis Marleybone
    Die Glocke im Schlafzimmer des Obergeschosses hatte ausgeklingelt. Nie wieder würde Mary die teppichbespannte Treppe ersteigen und das Silbertablett mit Daddys Frühstück, Mittagessen oder Abendbrot hinauftragen. Das Bett dort oben war leer.
    Mr. Bogash begleitete Mary von der Beerdigung nach Hause. Er war Daddys Anwalt gewesen; jetzt schien er der ihre zu sein und gewissermaßen zum Gesamterbe zu gehören. Während der Rückfahrt im Auto hatte er ihr mit der graubehandschuhten Rechten den Arm getätschelt und gesagt: »Nun, wir müssen bald einmal ausführlich miteinander plaudern. Sie wissen sicher, daß Sie nach dem Testament Ihres Vaters alles erben. Es geht dabei um eine beträchtliche Summe«, fuhr er fort und senkte die Stimme, als befinde er sich in der Kirche, »und demgemäß auch um eine große Verantwortung …«
    Demgemäß, daraus folgernd, so sei es, murmelte Mary vor sich hin und seufzte erleichtert auf, als Mr. Bogash endlich davongefahren war und sie mit der Haushälterin Sophie alleingelassen hatte. Doch nicht mehr ganz so erleichtert, als Sophie mit der Nachmittagspost ins Wohnzimmer kam und die übliche Litanei anstimmte.
    »Du mußt einmal an dich selbst denken, Kind. Das habe ich dir schon tausendmal gesagt, nur gilt es jetzt mehr denn je. Du mußt Pläne machen, Mary. Du mußt dir ein eigenes Leben gestalten, heiraten …«
    »Bitte, Sophie! Können wir nicht ein andermal darüber sprechen? Ist das die Post?«
    Sophie verfolgte mit verschränkten Händen, wie Mary die gelben Umschläge öffnete und die Beileidstelegramme studierte, ohne daß ihre Augen feucht wurden. Die meisten stammten von Daddys Geschäftspartnern; offenbar hatte er Dutzende davon gehabt. Nach einer Weile liefen die düsteren Worte zu einem bedeutungslosen Chor zusammen.
    Dann schrie sie auf: »Sophie!«.
    Die Haushälterin fuhr zusammen und war auf einen schlimmen Gefühlsausbruch gefaßt. Doch Mary lächelte mit verklärten Augen.
    »Sophie, Onkel Vernon hat geschrieben! Onkel Vernon! Er lebt, Sophie! Er kommt zur Beerdigung!«
    »Aber die ist doch längst vorbei!«
    »Wahrscheinlich wußte er nicht, wann sie war. In seinem Telegramm heißt es, er käme, so schnell er kann. Abgeschickt in New York.« Sie hob den Blick, »Onkel Vernon lebt, Sophie! Der Bruder meines Vaters! Als ich ihn zum letztenmal sah, war ich noch ein Kind!«
    »Und wo hat er die ganze Zeit gesteckt?«
    »Sicher überall, überall in der Welt. Er arbeitet im Theater, beim Variete. Einmal hat er sogar vor dem König von England gespielt, Sophie, stell dir vor!« Eifrig studierte sie noch einmal das Telegramm. »Ich hielt ihn für tot. Wir haben lange nicht mehr von ihm gehört …«
    »Hm«, machte Sophie mit verkniffenen Lippen. »Ein Varietekünstler – danach hört es sich in der Tat an. Was für ein Mensch muß das sein, der sich erst nach dem Tod seines Bruders wieder blicken läßt?«
    »Daddy hat nie viel von Onkel Vernon erzählt. Die beiden sind wohl nicht gut miteinander ausgekommen. Als ich noch klein war, kam er immer ganz überraschend. Beim letztenmal war ich zwölf …«
    »Und so benimmst du dich jetzt auch – als wärst du erst zwölf.« Aber das Leuchten in Marys Augen ließ nicht nach, und Sophie beschloß an ihrer Freude teilzuhaben. »Na, vermutlich will er ein Weilchen bleiben. Das blaue Gästezimmer ist seit Monaten nicht geputzt worden; ich muß mich darum kümmern. Mary …« Sie berührte das Mädchen an der Schulter. »Laß dich nur nicht zu sehr von diesem Mann beeinflussen, auch wenn er dein Onkel ist. Du brauchst einen jungen Mann, jemanden zum Liebhaben und Heiraten.«
    »Ich benehme mich wohl ziemlich töricht«, sagte Mary. »Ich habe ihn seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Sicher haben wir uns beide sehr verändert …« Ihre Hochstimmung war verflogen, und sie stand auf. »Ich bin müde, Sophie. Ich gehe nach oben.«
    Doch sie nahm das Telegramm mit.
    Um 8.30 Uhr am nächsten Morgen kam es zur Eröffnung der Feindseligkeiten, als Sophie dem kecken Ton der Türklingel folgte und sich Onkel Vernon Somerset gegenübersah. Die beiden musterten sich von Kopf bis Fuß, erkannten ihre weit auseinanderklaffenden Interessen, die sie zu unversöhnlichen Feinden machten, und wahrten dann doch die Form. Mit dem Lächeln eines Troubadours zerrte Onkel Vernon den Tirolerhut vom Kopf, verneigte sich so tief, daß Sophie das dichte, paraffinähnliche Haar bewundern konnte, das seinen Kopf bedeckte,
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