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Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser
Autoren: Henry Slesar
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nicht«, antwortete er ernst. »Ich finde, Sie belastet etwas, Mary, aber ich weiß nicht, was. Wenn ich raten müßte, würde ich sagen, es ist eine Art Schuldgefühl.«
    »Schuldgefühl? Das ist lächerlich! Warum sollte ich mich schuldig fühlen?«
    »Keine Ahnung.«
    »Ich glaube, Daddy hat mich so durcheinander gebracht. Er fehlt mir so sehr – das wird es sein!«
    »Glauben Sie das wirklich?«
    »Ja!« sagte sie heftig. »Ja, wirklich! Ich habe Daddy sehr geliebt. Ich habe mich jahrelang um ihn gekümmert …«
    »Selbstverständlich haben Sie ihn geliebt, das war ganz natürlich. Aber ein Mensch kann gleichzeitig lieben und hassen, Mary. Wir können uns gegen die Liebe auflehnen, die andere von uns fordern, und das kann einen Menschen zerreißen.«
    »Das ist doch billige Psychologie!«
    »Ich habe auch nicht behauptet, daß sie teuer sei. Es ist nur tatsächlich denkbar, daß jemand beim Tod eines geliebten Menschen Erleichterung verspürt. Und schon wäre dem Schuldgefühl Tür und Tor geöffnet.«
    Sie starrte ihn in offenem Entsetzen an.
    »Glauben Sie etwa, ich war froh, als Daddy starb?«
    Er berührte sie am Arm. »Ich spreche doch gar nicht von Ihnen! Dazu kenne ich Sie noch nicht gut genug – doch ich hoffe auf die Chance, Sie näher kennenzulernen. Lassen wir das Thema fallen, ja?«
    »Ja«, sagte sie kühl. »Lassen wir das Thema. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich jetzt nach Hause.«
    Er erhob Einwände, doch sie antwortete nicht mehr. Der Abschied vor dem Haus fiel kurz aus, und in dieser Kürze lag etwas Endgültiges.
    Mary war auf der Treppe, als Onkel Vernon aus dem Arbeitszimmer trat.
    »War es nett, Liebling?«
    Sie wich seinem Blick aus. »Ja.«
    »Dein Arzt macht einen ausgezeichneten Eindruck. Hast du ihn zufällig wegen unserer Unterhaltung von heute früh gefragt?«
    »Wegen des Hypnotiseurs? Ja, wir sprachen darüber. Er schien es für eine gute Idee zu halten.«
    »Ach, wirklich?« Onkel Vernon strahlte. »Das ist ja wunderbar, Mary! Ich habe nämlich schon ein wenig herumtelefoniert und Bekannte um Rat gefragt. Ich glaube, ich weiß schon jemanden für dich.«
    »Ach?«
    »Einen gewissen Dr. Herbert Dudley. Er hat eine Praxis in Boston. Seine Spezialität ist die Hypnotherapie, er gehört auf diesem Gebiet zu den besten Ärzten.« Onkel Vernon kam zu Mary und umfaßte ihre Hände. »Bitte sei nicht böse auf deinen alten Onkel Vernon – ich habe ihn bereits angerufen.«
    »Was hat er gesagt?«
    »Nun, am Telefon klang er sehr nett. Ich erklärte ihm das Problem, deine Schlaflosigkeit und alles – und er äußerte sich positiv. Er glaubt dir helfen zu können, Mary. Gehst du zu ihm, Püppchen – für mich?«
    Sie blickte in seine liebevoll flehenden Augen.
    »Ja, Onkel Vernon«, sagte sie. »Natürlich gehe ich hin.«
    Die Anschrift war ein Mietshaus an der Commonwealth Avenue. Die Praxis wurde durch ein kleines rechteckiges Namensschild über der Klingel angezeigt: Dr. med. HERBERT L. DUDLEY. Der Name klang beruhigend; die vertrauten Buchstabenkürzel waren irgendwie tröstend. Mary drückte auf den kleinen weißen Knopf, und ein leiser Glockenklang rief den Arzt an die Tür.
    Ihr erster Gedanke galt seinen Augen. Aus irgendeinem Grund hatte sie damit gerechnet, daß ein Hypnotiseur schwarze, zwingende Augen haben müsse. Dr. Dudley aber blickte mit sanften braunen Augen in die Welt, beschattet von zottigen Brauen, die ihren Glanz dämmten. Er war in mittlerem Alter, hatte vorgebeugte Schultern und wirkte erschöpft, seine Stimme aber strahlte eine überraschende Kraft aus.
    »Miss Somerset?« fragte er. »Kommen Sie herein, meine Liebe.«
    Scheu betrat sie die Wohnung – es war nichts anderes als eine Wohnung. Von den üblichen ärztlichen Utensilien war nichts zu sehen. Kein Untersuchungszimmer, keine Glasschränke, keine Instrumente. Dr. Dudley arbeitete von seinem Tisch aus. Der übergroße Ledersessel davor war offensichtlich für die Patienten bestimmt. Mary setzte sich auf sein Geheiß, und sie plauderten einige Minuten lang. Er stellte die üblichen Fragen, und sie antwortete mechanisch, während sie im Schoß nervös die Hände rang.
    »Entspannen Sie sich doch, meine Liebe«, sagte er beruhigend. »Das ist alles nicht weiter schwierig. Sobald Sie der Hypnosuggestion erst erlegen sind, werden Sie alles sehr angenehm finden. Als erstes müssen Sie sich dazu überwinden, mir zu vertrauen. Ob das wohl möglich ist?«
    Er ging zu dem Doppelfenster hinter dem Tisch
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