Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Coole Geschichten für clevere Leser

Coole Geschichten für clevere Leser

Titel: Coole Geschichten für clevere Leser
Autoren: Henry Slesar
Vom Netzwerk:
herausspringt!«
    »Das glaube ich nicht!« Mary wandte sich besorgt an den Anwalt. »Das stimmt doch nicht, oder?«
    »Nun, ganz so würde ich es nicht ausdrücken. Als ich Mr. Somerset die Bedingungen des Testaments erläuterte, meinte er, genau das habe er erwartet. Er hielt die Regelung für fair.«
    »Siehst du?« fragte Mary.
    Auf diese Frage antwortete Sophie erst, als der Anwalt gegangen war: »Nein, ich sehe nichts! Ich traue diesem Onkel nicht über den Weg, Mary. Wenn ich ihn nur anschaue, tun mir die Hühneraugen weh.«
    »Sophie, bitte!«
    »Er behandelt mich wie eine Dienstbotin, Mary; so bist du nie zu mir gewesen. Er ist ein raffinierter alter Knabe …«
    Mary wirbelte zu ihr herum, eine Mary, wie Sophie sie noch nie erlebt hatte. »Du bist eifersüchtig auf ihn, Sophie, das ist es!«
    »Mary!«
    »Daß du mir nie wieder so über ihn sprichst! Und das ist mein voller Ernst, Sophie, wirklich!«
    Sie eilte aus dem Zimmer, und Sophie begann keuchend zu atmen, wie ein im Wasser watendes Kind, das plötzlich den Boden unter den Füßen verliert.
    Als der Brief eintraf, war Onkel Vernon genau drei Wochen im Haus.
    »Es ist passiert, Püppchen!« jubilierte Onkel Vernon. »Aus dem guten alten New York, von meinem Agenten!«
    »Dann ist es wirklich wahr? Du wirst wieder am Broadway auftreten?«
    »Die Finanzleute wollen mich morgen vorsprechen lassen. Wenn ich nicht gerade von der Bühne falle, stehen die Chancen ganz gut. Ich muß heute abend ein paar Sachen zusammenpacken.«
    »Ich helfe Ihnen gern dabei«, sagte Sophie trocken und überging Marys Stirnrunzeln.
    Aber es gab ein Problem. »Es handelt sich bloß um eine Probe«, fuhr Onkel Vernon fort. »Ich bin nicht länger als zwei, drei Tage fort. Wahrscheinlich komme ich Freitag zurück – hoffentlich mit guten Nachrichten.«
    Seine Absicht, die Reise so kurz wie möglich zu gestalten, wurde am nächsten Morgen offenkundig: das kleine Bündel, das er bei sich hatte, mochte kaum für eine Übernachtung ausreichen. Trotzdem weinte Mary, als handele es sich um einen Abschied für immer. Sie fuhr ihn zum Bahnhof und winkte ihm vom Bahnsteig nach, bis der Zug nicht mehr zu sehen war. Als sie nach Hause zurückkehrte, war ihre Stimmung ins Melancholische abgesunken.
    Onkel Vernons Stimmung im Zug war besser. Pfeifend nahm er den Brief aus der Tasche und las ihn zum drittenmal. Es war nur eine kurze Notiz, enthielt aber wunderbare Zukunftsaussichten. Der gute alte Harry Domino! Hätte er gewußt, daß Vernon ihn als »Agent« dargestellt hatte, wäre er purpurrot angelaufen. Harry haßte Agenten, seit vielen Jahren schon. Domino der Große! Onkel Vernon lachte leise vor sich hin und lehnte sich gegen das Zugfenster, halb dösend, halb seinen Gedanken nachhängend: er dachte an Harry und fragte sich, wie die Zeit wohl mit ihm umgesprungen war. Fragte sich, ob die lange Untätigkeit ihm das Können geraubt hatte, jene geheimnisvolle Fähigkeit, die Onkel Vernon schon immer mit einem ehrfürchtigen Schauder erfüllt hatte. Der gute alte Harry! Onkel Vernon schloß die Augen und sah den Namen wie auf einem Theaterplakat in riesigen roten Lettern: Domino der Große! Domino, der Mann mit den Wunderaugen!
    Sie wußte später gar nicht mehr, wann die Schlaflosigkeit eingesetzt hatte. Sicher nicht lange nach Onkel Vernons Rückkehr aus New York. Standen die beiden Dinge im Zusammenhang? Wie ein besiegter Krieger mit trostlos herabhängender Flagge war er ins Haus gestapft. Wacker hatte er seine Gefühle zu verbergen getrachtet, doch Mary hatte bei seinem Bericht gelitten. Nein, er war nicht von der Bühne gefallen, aber er war einfach zu alt.
    Lag hier die Ursache für ihre Schlaflosigkeit? Oder war es etwas anderes? Wartete sie auf einen Laut, den sie nie wieder hören würde, das Läuten einer Glocke im leeren Schlafzimmer auf der anderen Flurseite? Fehlte ihr der Vater so sehr? Wie immer der Grund aussehen mochte, Mary schlief nicht mehr gut.
    Sophie nahm das Problem von der praktischen Seite. Eines Tages traf sie Mary um ein Uhr früh in der Küche an, wie sie sich auf dem Herd eine Schale Milch warm machte. »Du mußt zum Arzt«, sagte sie entschlossen. »Mary, man kann ohne Schlaf nicht leben! Das ist einfach nicht natürlich.«
    »Es liegt sicher nur an den Nerven, Sophie.«
    »Und das ist ja auch kein Wunder! Seit Mr. Showbusiness ins Haus gezogen ist, bin sogar ich mit den Nerven runter.«
    »Onkel Vernon kannst du das nicht anlasten!«
    »Na, vielleicht ist
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher