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Colin Cotterill

Titel: Colin Cotterill
Autoren: Dr. Siri und seine Toten
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Segnungen, die der Sieg der Kommunisten mit sich gebracht hatte.
    Aber da die Verhältnisse nicht schlechter waren als zuvor, beklagte sich niemand. Er entzündete die Flamme seines Gaskochers und setzte einen Kessel Kaffeewasser auf. Es war eigentlich ganz schön, wieder zu Hause zu sein.
    Noch wusste er nicht, dass ihm an diesem Wochenende ein seltsames Erwachen bevorstand, und das gleich in doppelter Hinsicht. Den Freitagabend verbrachte er am Schreibtisch und las im Schein der Öl ampe, bis ihm das Geschwirr der Motten lästig wurde. Von seiner Matratze aus beobachtete er, wie der Mond hinter einer Wölke und noch einer und noch einer verschwand, bis er schließlich in einen friedlichen Schlaf sank.
    Siris Traumwelt war immer schon bizarr gewesen. Als Kind hatten ihn die Bilder, die dort lauerten, fortwährend aus dem Schlaf gerissen. Dann trat die kluge Frau, bei der er aufwuchs, an sein Bett und erklärte ihm, dies seien seine Träume, in seinem Kopf, und darum habe er von ihnen auch nichts zu befürchten. Er lernte, erhobenen Hauptes durch seine Albträume zu wandeln und sich von ihnen keinen Schrecken einjagen zu lassen.
    Nun hatte er zwar keine Angst mehr, aber noch immer keine Macht über seine Träume. So gelang es ihm zum Beispiel nicht, ungebetene Gäste fernzuhalten. Immer wieder suchten ihn in seinen Träumen Fremde heim, die nicht die Absicht hatten, zu seiner Unterhaltung beizutragen. Sie lungerten faul und untätig herum, als sei Siris Kopf ein Wartezimmer. Er hatte nicht selten das Gefühl, dass seine Träume sich hinter den Kulissen der Träume anderer abspielten.

    Aber die bei weitem kuriosesten Besucher seines Unterbewusstseins waren die Toten. Seit seinem ersten Todesfal , dem ersten von Kugeln durchsiebten Opfer einer Schießerei, das auf seinem Operationstisch gestorben war, hatten ihm ausnahmslos al e, die vor seinen Augen vom Diesseits ins Jenseits gegangen waren, einen Besuch abgestattet.
    Als junger Arzt hatte er sich gefragt, ob das viel eicht die Strafe dafür war, dass er sie nicht gerettet hatte. Keiner seiner Kol egen wusste von solchen Heimsuchungen zu berichten, und ein Psychologe, mit dem er in Vietnam zusammengearbeitet hatte, glaubte, sie seien nichts weiter als Manifestationen seiner Gewissensbisse. Jeder Arzt frage sich, ob er auch wirklich al es für seinen Patienten getan habe. In Siris Fal , meinte der Seelenforscher, nähmen diese Zweifel plastische Gestalt an. Was Siri einigermaßen beruhigte, war der Umstand, dass die Verstorbenen in seinen Träumen ihm keine Schuld an ihrem Ableben gaben; sie waren bloße Zeugen, die das Geschehen wie er stumm verfolgten. Sie hatten ihn noch nie bedroht.
    Der Psychologe versicherte ihm, dies sei ein gutes Zeichen.
    Seit Siri als Pathologe arbeitete und mit den Leichen ihm unbekannter Menschen in Berührung kam, hatten diese Erscheinungen an Tiefe und Bedeutsamkeit gewonnen. Aus irgendeinem Grunde wusste er um die Gefühle und den Charakter der Toten. Dabei schien es keine Rol e zu spielen, wann das Leben aus ihnen gewichen war; seine Traumwelt konnte ihren Geist auch nach Jahren noch rekonstruieren. Wenn er sich dann mit ihnen unterhielt, bekam er eine Ahnung vom Wesen der Menschen, die sie zu Lebzeiten gewesen waren.
    Natürlich konnte Siri sich seinen Freunden und Kol egen unmöglich anvertrauen. Es hatte schließlich niemand etwas davon, wenn er gestand, dass ihn nach Einbruch der Dunkelheit der Wahnsinn packte. Denn seine Anwandlungen waren erstens völ ig harmlos und drängten ihn zweitens, den sterblichen Hül en der Toten mit größerem Respekt zu begegnen, weil er wusste, dass ihre ehemaligen Bewohner früher oder später zurückkehren würden.
    Angesichts der mysteriösen Dinge, die Siri im Schlaf durchlebte, war es kaum verwunderlich, dass er oft verwirrt erwachte. Und so fand er sich auch an diesem Samstagmorgen in einer solchen Weder-noch-Dimension wieder. Er wusste, dass er in seinem Zimmer war und eine Mücke ihn zweimal in den Finger gestochen hatte. Er hörte den Wasserhahn tropfen. Er roch den Duft des Laubes, das im Tempelgarten verbrannt wurde. Trotzdem träumte er noch.
    Auf einem der beiden Stühle saß ein Mann. Die Morgensonne sickerte durch den Stoffvorhang gleich hinter seinem Kopf. Wegen des Moskitonetzes konnte Siri sein Gesicht nicht erkennen, aber eine Verwechslung war ausgeschlossen. Er trug kein Hemd, und sein schmächtiger Oberkörper war mit verblassten blauen Mantratätowierungen bedeckt. Unter seinem
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