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Codex Mosel

Titel: Codex Mosel
Autoren: Mischa Martini
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blinzelte. Aus den wenigen Autos, die hier des Nachts herkamen, stieg höchstens mal jemand nach dem Schäferstündchen zum Pinkeln aus.
    Einige Minuten vergingen. Noch hatte ihm keine zugeschlagene Autotür signalisiert, dass jemand wieder eingestiegen war.
    Als ein schmaler Lichtstrahl aufblitzte, rollte Veit sich mit zwei vollen Drehbewegungen zur Wand, gerade schnell genug, dass ihn der Schein nicht traf, der nun in seiner Nische klebte und über ihm am Fels hin und her strich. Vor ihm knackte ein Ast. Veit tastete nach dem Klappspaten, den er vorhin beim Herumrollen hart im Rücken gespürt hatte. Beim Gleiten über den Sand klirrte das Metall so hell, als würde ein Schwert leise aus der Scheide gezogen.
    Es war wieder dunkel. Veit konnte nicht einschätzen, wie weit der Kerl entfernt war. Seine Hand strich über den Boden und bekam einen Stein zu fassen.
    Nach einer Weile wagte er sich wieder zur Felskante vor. Er zog die Kapuze zurück und fuhr dabei mit der Hand über die scharfen Stoppeln auf seinem Kopf, die sich wie grobes Schmirgelpapier anfühlten. Wäre das alte Laub vom letzten Herbst trocken gewesen, hätte er rechtzeitig die Schritte gehört. So war die Gestalt, die dort den Hang hoch kraxelte, höchstens zehn Meter von ihm entfernt und bereits auf gleicher Höhe mit ihm. Gegen das von der Lampe angestrahlte Gelände waren die Umrisse des Kletterers zu erahnen. Er trug etwas auf dem Rücken oder hatte einen noch größeren Buckel als der Glöckner von Notre-Dame. Plötzlich war die Gestalt verschwunden. Veit wusste von der schmalen Höhle, die er Zwergenhöhle nannte. Man gelangte nur hinein, indem man sich flach auf den Bauch legte und wie eine Schlange kroch.
    Da war die Gestalt wieder. Sie bewegte sich den Hang hinunter. Den Buckel hatte sie verloren.
    *
    Unschlüssig, ob er die Mail sofort löschen sollte, sah Walde am Monitor vorbei nach draußen, wo eine Meise auf der Fensterbank landete. Der in den blauen Himmel ragende Turm der Pauluskirche warf einen langen Schatten auf das Eckhaus gegenüber. Waldes Telefon klingelte. Gleichzeitig klopfte es an der Tür.
    »Wo bleibst du denn?«, meldete sich Gabi, kaum dass er den Hörer abgenommen hatte.
    »Bin schon unterwegs.«
    Vor seiner Tür stieß er auf eine kleine Frau mit Sonnenbrille und ein Mädchen, das sie um einen Kopf überragte.
    Für Walde gab es kein Durchkommen. »Kann ich Ihnen helfen? Mein Name ist Bock.«
    »Jaaaa.« Die Silbe wurde von der Frau, er schätzte sie Mitte vierzig, mit einer solchen Inbrunst gehaucht, dass er ihre Not beinahe mit Händen greifen konnte.
    Er warf einen überflüssigen Blick auf seine Uhr. »Es tut mir Leid, aber ich habe nur ganz wenig Zeit.«
    »Gertrud Marx.« Sie nahm die Sonnenbrille ab. »Es geht um meinen Mann, ihren Vater.« Mit einer knappen Handbewegung wies sie auf ihre Tochter. Das Mädchen schien um die sechzehn zu sein, schwarze Haare, dunkle Augen, braune Haut. Die Ähnlichkeit mit der Mutter wurde ihm erst auf den zweiten Blick bewusst.
    »Was ist mit ihm?«
    »Das wissen wir nicht.« Die Augen der Frau wirkten übernächtigt, aber bei näherem Hinsehen war Walde sich sicher, dass die Rötung von stundenlangem Weinen herrühren musste.
    »Bitte?« Er beugte sich zu der Frau hinunter, um ihre flüsternde Stimme besser verstehen zu können.
    »Mein Mann ist weg.«
    »Seit wann?«
    »Gestern Abend ist er nicht von der Arbeit nach Haus gekommen.«
    »Wer hat Sie zu mir geschickt?« Walde trat von einem Bein aufs andere.
    »Unten konnte mir niemand weiterhelfen.«
    »Wer?«
    »Da unten, Herr Kommissar, die Polizisten am Eingang.«
    »Und die haben Sie dann einfach durchgelassen? Hier ist keine Abteilung für Vermisste.«
    »Wir wissen, wo wir sind, Herr Kommissar. Sie haben uns so nett aus der Zeitung angelächelt. Sie sind der Chef der Mordkommission. Wenn mein Mann trinken würde oder mit anderen Frauen …«, sie stockte, »oder sonst irgendwie unzuverlässig wäre …« Sie rang um Fassung. »Er kennt sich sehr gut mit alten Bäumen aus. Konrad hatte gestern einen Auftrag beim Generalvikariat. Da haben wir schon angerufen. Die wissen nix. Es muss ihm etwas zugestoßen sein.«
    Schwere Schritte hallten durch den Gang, ohne dass jemand zu sehen war.
    »Hm.« Walde zupfte sich am Ohr. Sein Kollege Rob, genannt der Schnauz, in Motorradkluft, einen Helm unter dem Arm, bog um die Ecke des Flurs.
    »Hallo Robert, entschuldige, ich muss dringend zu einem Termin.« Walde versuchte ein freundliches
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