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Clementine schreibt einen Brief

Clementine schreibt einen Brief

Titel: Clementine schreibt einen Brief
Autoren: Sara Pennypacker
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einem Blick an, der sagte, dass ich diesen Witz schon einmal gehört hatte und dass er N-I-C-H-T witzig war, überhaupt nicht witzig.
    »Doch, wirklich«, sagte er. »Und es gehört zu meinem Job zu wissen, wann jemand so weit ist. Erinnerst du dich an die Geschichte über die Vogelmutter und die Vogelbabys?«
    Natürlich erinnerte ich mich daran, es war schließlich seine Lieblingsgeschichte. Wann immer er damit anfing, zog die ganze Klasse ihr geheimes Jetzt-geht-das-wieder-los-Gesicht. Aber da sonst niemand aus der Klasse da war, zog ich das Gesicht nur in Gedanken, als Herr D’Matz loslegte.
    »Die Vogelmutter legt Eier und kümmert sich sehr gut um sie. Sie brütet, bis die Jungen ausschlüpfen, und dann füttert sie sie und hält sie im Nest warm«, sagte er.
    Diesen Teil kennt ja jeder – den schönen Teil. Was so schrecklich ist, ist der Schluss.
    »Und dann, eines Tages, wenn die Babys eine Zeit lang auf dem Zweig vor dem Nest gesessen haben, weißt du, was die Vogelmutter dann macht?«
    »Ja, das weiß ich«, sagte ich. »Zack! Ganz ohne Vorwarnung schubst sie sie vom Zweig. Ich finde, für solche Mütter sollte ein Vogelknast eingeführt werden.«
    »Aber sie muss das tun. Wenn sie sie beim ersten Mal nicht vom Zweig stößt, werden sie nie begreifen, dass sie fliegen können. Die Vogelmutter weiß, wann sie so weit sind.«
     

     
    »Ich finde das trotzdem nicht richtig. Ich finde, sie sollte sagen: He, Leute, irgendwann, wenn ihr gerade in der Stimmung dazu seid, dann bewegt doch mal eure Flügel, seht her, so. Und wenn sie nicht wollen, können die Vogelbabys sagen: Nein danke, heute nicht. «
    »Und du sagst, nein danke, heute nicht , wenn es darum geht, dass ich die Klasse verlassen werde?«
    Ich schaute aus dem Fenster und kniff meinen Mund zu einem Linealstrich zusammen, damit er nicht sagte: Nein, ich sage: Nein danke, nicht dieses Jahr .
    Herr D’Matz seufzte und nickte zu meiner Brotdose hinüber. »Warum gehst du nicht in die Cafeteria, bevor die Mittagspause vorüber ist? Wenn du zurückkommst, wird Frau Nagel hier sein. Ich glaube, es geht dir besser, wenn du sie erst kennengelernt hast.«
    Und wirklich, als wir zurückkamen, saß auf dem Stuhl meines Lehrers eine Frau in einem grünen Kleid. Sie packte eine große Tasche aus.
    Ich ging zu ihrem Pult, um ihr zuzusehen.
    Sie stellte einen »Ich ♥ unser Klassenzimmer«-Becher dahin, wo mein Lehrer sonst seinen »T für Lehrer«-Becher stehen hat.
    Dann kam eine Packung »Du bist ein Star«-Aufkleber.
    Eine mit Knöpfen und Muscheln beklebte Schachtel für Papiertaschentücher.
    Ein gerahmtes Foto mit einer in eine blaue Decke gewickelten rosa Ratte.
    Moment mal! Ich griff nach dem Foto, um es mir genauer anzusehen. Schwanz und Pfoten der Ratte waren unter der Decke versteckt und ihren Schnurrbart konnte man auch nur erahnen, aber es stimmte: Es war eine rosa Ratte in einer blauen Decke. Vielleicht war diese Vertretungslehrerin ja doch nicht so schrecklich.
    Die Lehrerin nahm mir das Bild ab und erkundigte sich nach meinem Namen. Den sagte ich ihr und sie meinte: »Na, Clementine, solltest du nicht auf deinem Platz sitzen?«
    »Noch nicht«, antwortete ich. »Unser Lehrer lässt uns immer bis halb eins herumlaufen.«
    »Aber jetzt bin ich eure Lehrerin. Also geh zu deinem Platz.«
    Das hieß, ich musste zu meinem Platz gehen und alle starrten mich an, was ich hasse.
    Die Lehrerin stand auf und klatschte in die Hände. »Guten Tag, liebe Kinder. Ich bin Frau Nagel.« Dann ging sie zur Tafel und schrieb ihren Namen in großen Buchstaben gleich neben den unseres richtigen Lehrers. Als ob er da was zu suchen hätte!
    Sie drehte sich um und klatschte wieder in die Hände. »Das Erste, was wir heute machen werden«, sagte sie, »ist eine Karte schreiben, um Herrn D’Matz alles Gute zu wünschen.«
     

     
    Sie griff zu einem Stapel zusammengefalteter Blätter und teilte sie aus. Als alle eins hatten, sagte sie: »Aber schreibt erst mal noch nichts drauf.«
    Ich strich das Bild der biertrinkenden Verbrecher im Saloon, das ich schon gezeichnet hatte, durch. Unser Lehrer nennt mich manchmal »Schnellschuss-Clementine«. Und er sagt rechtzeitig, »aber schreibt erst mal noch nichts drauf«, und zwar bevor er die Blätter verteilt. Diese Vertretungslehrerin würde einen Haufen Ärger machen.
    Frau Nagel sagte, wir sollten in die Karten »Viel Glück« schreiben, und als alle fertig waren, sagte sie, wir könnten auf die Außenseite ein Bild malen.
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