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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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sich von Jagd und Fischfang ernährt hat.“
    Die Kinder würden ihr zuhören und dabei etwas über ihre eigene Vergangenheit erfahren. Sie würden sich an all die Zicklein erinnern, die man mit Fallen in Gruben gefangen hatte, an die über dem Lagerfeuer brutzelnden Karpfen, Forellen, Gründlinge. An die Sommernächte, in denen Mond und Sterne so nah zu sein schienen, dass sie, ähnlich wie die Gallier, mit alten Motorradhelmen, die sie in einer Schlucht gefunden hatten, schliefen, damit sie überlebten, wenn der Himmel ihnen auf den Kopf fiel.
    Petra ist verschwunden, hat sich aufgelöst. Der fast tote Körper wurde weggebracht wie eine Leiche. Dieselbe Leere im Keller wie nach einem Begräbnis, wenn niemand mehr im Bett liegt. Nur noch der Leichengeruch hängt in der Luft, er verflüchtigt sich aber so schnell wie das schäumende Kielwasser einer Jolle.
    Martin weint nicht mehr. Roman reitet wieder durch die Zimmer, bevor er neben seinem Bruder vor dem Fernseher landet. Angelika ist aufgewühlt ohne die Hilfe des Rates der Archonten, die sich eine Zeit lang um die Witwen und Mütter kümmern. Sie kann sich nicht einmal dadurch ablenken, dass sie sich im Krankenzimmer emsig nützlich macht. Sie hat keine Hoffnung, ein ermutigendes Zeichen im Gesicht der Krankenschwester zu sehen, die gerade Temperatur und Blutdruck gemessen, den Infusionsbeutel gewechselt oder ihn mit Morphium versetzt hat.
    Reden. Die Worte im Heft sind wie ein stiller Gesprächspartner, der gerührt zuhört.
    Martin und ich haben geholfen, Petra hinaufzutragen. Sie hat nicht mal gestöhnt, als sie mit dem Kopf an die Stahlbetontür geprallt ist. Wir sind ins Erdgeschoss gekommen. Ich habe gehört, wie jemand die Treppe heruntergekommen ist. Ich bin sicher, dass ich Mama gesehen habe. Ihr Gesicht wie ein Blitz. Sie ist verschwunden. Sie hat ihren Schatten an der Wand zurückgelassen. Als ich mit ihm sprechen wollte, war er schon wieder bei ihr. Seit drei Jahren hat sie uns nicht mehr besucht. Ich glaube, davor ist sie gekommen. Sie hat sich hinter ihm versteckt. Sie hat aufgestöhnt, als sie ihren Bauch durch die Luke gezwängt hat. Oft ist sie im Labyrinth geblieben, hat ihren Schatten oder ein kleines Foto geschickt. Sie hat gewartet, bis er in der Küche war, dann hat sie sich gelöst, hat auf den Boden gehaucht und ihn mit dem Ärmel geputzt.
    Eine gemeine Mutter, die ihre Tochter im Vorbeigehen demütigen will.
    Ich habe sie mit der Fußspitze zerquetscht, Papa hat so getan, als hätte er nichts gesehen. Ich habe gehört, wie sie im Labyrinth wieder zu sich gekommen ist, sobald er die Tür zugemacht hatte, die Sohlen ihrer alten Pantoffeln haben auf dem Zementboden geklappert.
    Angelika ärgerte sich, dass sie ihre Papierschere nicht mitgenommen hatte, um den Schatten abzutrennen, ihn zu zerknüllen und in einem Knäuel in die Tasche zu stecken – ihre Mutter zu zwingen, nach ihrer Rückkehr in den Keller herunterzukommen und ihn zurückzuverlangen, damit sie Tag und Licht nicht mehr scheuen musste.
    Wir sind durch den Garten gegangen und haben Petra in die Garage getragen. Ich habe einen Fensterladen aufgehen und schlagen hören. Er hat Martin befohlen, den Kopf zu senken und nicht in den Himmel zu blicken. Die Sonne war untergegangen. Es war zu hell, ich habe die Augen zugemacht – eine rosa Wolke in einem Winkel, der sich an die Sonne erinnerte. Auch das braune Gras auf dem Boden war geblendet. Die frische Luft brannte mir in den Lungen. Sauerstoff ist für uns Gift geworden. Der Kopf dreht sich wie nach dem ersten Zug Haschisch nach der Schule hinter der Bushaltestelle. Landgeruch, Stadtgeruch, der Geruch des Grills, der kalt hinten im Garten steht, der eklige Geruch meines Kleides, das ich am Abend zuvor gewaschen habe, Petras Geruch, Martins Geruch, der Geruch in Papas Kleidern, der Geruch des Kellers um uns herum wie Fliegen. Die Dunkelheit in der Garage und das Licht der Lampe waren eine Erleichterung. Der Geruch des Autos, der Karosserie, des Tanks, der Ledersitze. Ein deutliches Bild des Motors vor mir, als würde jedes Teil seinen eigenen Duft verströmen. Die Fahrt in den Urlaub und Mamas Schläge, wenn uns schlecht wurde und Papa nicht anhalten wollte. Erinnerungen in den Tüchern, die an Haken und im Schrank hängen, wo auch alte Reifen, das Dreirad und Strandspiele verstaut sind.
    ,,So ein Knochengerüst ist trotzdem schwer.“
    Er hat bis drei gezählt, dann haben wir sie abgelegt. Ihr Kopf schlug geräuschvoll auf den
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