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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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die niemals im Wortschatz landen würden.
    Der Filzstift glitt wie ein Schlittschuhläufer über das Heft. Sie lauschte ihm, eine improvisierte Musik, flüchtige Melodien, tam-tam.
    Die Kinder sind ungewaschen eingeschlafen. Angst, Martin könnte krank werden und Roman anstecken. Die Luft oben ist voller Mikroben. Im Labyrinth werden sie herausgefiltert, bevor sie hier ankommen. Ich hätte eine Wanne Wasser und Seife vor die erste Luke stellen sollen. Dann hätten wir uns abwaschen können. Unsere Kleider hätten wir draußen gelassen. Es heißt, Eingeborenenstämme werden dezimiert, wenn sie Kontakt mit Forschern haben. Ich muss unsere Luft reinigen.
    Über ihrem Kopf schwenkt sie von Zimmer zu Zimmer ein Tuch, mit Chlorbleiche getränkt. Weiße Flecken auf den Tagesdecken. Ihr Gesicht gerötet von den Tröpfchen, rot die Augen. Sie duscht sich schnell ab, übergießt sich mit Badeschaum.
    Reglos wartet sie, bis die Ausdünstungen sich verflüchtigt haben. Der Geruch des Kellers, der Bakterienkadaver, der unzuträglichen Luft des Gartens. Bleiben nur noch die harmlosen Schnupfenerreger. Petras Krankheit war sicherlich eine exotische, ihr Vater hat sie angesteckt. Man müsste in der Schleuse eine Umkleidekabine einrichten. Jedes Mal müsste Fritzl einen frisch gewaschenen und gründlich auf der linken Seite gebügelten Overall anziehen. Und sobald er in der Speisekammer angekommen wäre, würde sie ihn mit Alkohol säubern.

Am nächsten Abend wird im Fernsehen der erste Aufruf des Chefarztes des Klinikums ausgestrahlt, der Petras Mutter treffen will. Angelika stürzt sich auf ihr Heft, als könnten die Sätze gleich da oben am Himmel als Buchstaben aus Rauch auftauchen.
    Ich muss mit dem Doktor sprechen. Papa kommt nicht. Er hat gesagt, er würde uns vergasen, wenn ich noch mal an die Rohre schlage. Ich kann mich nicht in das Antennenkabel zwängen, um mit ihm da oben zu sprechen. Er sagt, oben gibt es Parasiten, wenn ich beim Putzen den Fernseher bewege. Parasiten sind Signale.
    Er kam, er aß. Er sah den Chefarzt im Fernsehen. Er stürmte wieder hinaus. Er stellte Strom und Wasser ab und verurteilte den Keller zum Tode. Er würde nie mehr wiederkommen. Die Leichen würden in ihrer Kiste verdorren. Wenn Petra sich wieder erholte, würde man ihre Enthüllungen für frei erfundene Erinnerungen halten. Fritzl spielte auch mit dem Gedanken, die Geräte zu manipulieren, wenn man ihm gestattete, Petra auch ohne die Anwesenheit des Pflegepersonals Gesellschaft zu leisten. Ein Fehler bei der Beatmung ist schnell passiert.
    Angelika und die Kinder sind wie versteinert. Drei Salzsäulen im Schlafzimmer. Langsame, kaum hörbare Atmung. Die Herzen unterziehen sich trotz der Angst nicht der Mühe, stärker zu schlagen. Plötzlich entspannen sich die Körper, als hätte die Hinrichtung schon stattgefunden. Sie fallen aufs große Bett, schlafen ein.
    Am nächsten Morgen erwachen sie gleichzeitig. Angelika kann die Zeit auf Martins Uhr ablesen. Die phosphoreszierenden Zeiger leuchten sogar noch in vollkommener Dunkelheit. Sie bindet sich die Armbanduhr um.
    ,,Warum nimmst du sie mir weg?“
    ,,Sei still!“
    Sie geht in die Küche. Sie wirft ihre Küchenutensilien auf den Boden. Die Kinder essen Brot, Schokolade, sie trinken Milch aus der Flasche. Angelika starrt die Uhrzeiger an. Mit einer Pfanne in der Hand wartet sie auf den Briefträger. Um fünf nach zehn fängt sie an, Krawall zu schlagen. Die Kinder schnappen je einen Topf und dreschen brüllend auf die Rohre ein. Kollektiver Aufruhr in der Strafanstalt, wenn die Gefangenen alle gleichzeitig mit ihrem Essgeschirr an die Gitter schlagen.
    Das Leben beginnt von Neuem. Sie blinzeln. Sie gewöhnen sich wieder an das Licht. Angelika ist schon in der Badewanne, um die erste Dusche des Tages zu nehmen. Die Kinder drängen sich vor dem Fernseher. Das unterirdische Fürstentum setzt wieder unbeirrt seinen Weg fort.
    Der Tag vergeht, die Nacht vergeht. Unablässig wird der Aufruf des Arztes gesendet. Am Abend kommt Fritzl zu Besuch. Er hat beschlossen, Petra die Chance zu geben, auf der Intensivstation eines natürlichen Todes zu sterben. Die Prognose ist zurückhaltend. Wenn überhaupt, wird Petra erst nach Wochen wieder zu sich kommen. Fritzl hätte ausreichend Zeit, darüber nachzudenken.
    ,,Zu Mittag hat sie ein bisschen Reis gegessen.“
    Im Fernsehen sagten sie aber doch, dass sie noch immer zwischen Leben und Tod schwebe. Angelika versuchte, ihn mit ihren Reizen zu einem
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