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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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erfand.
    Ende November 2008 fuhr ich nach Amstetten. Ein graues Kaff in Niederösterreich, umgeben von Wäldern und Hügeln. Ein Ort wie jeder andere, um ein Leben zu schenken und das eigene Leben dahinziehen zu lassen, ohne zu klagen und ohne zu jubeln.
    Ich traf Roman im Landesklinikum Amstetten-Mauer. Nachdem man das Spital von Patienten geräumt hatte, wurde die Kellerfamilie dort untergebracht, um sie vor Journalisten und Paparazzi zu schützen. Nicht die Spur eines Polizisten an diesem Morgen – die Medien waren es müde geworden, die Festung zu belagern.
    Ich war mit dem Taxi gekommen. Der Fahrer sprach ein wenig Englisch.
    „Sie haben einen Ball dabei?“
    „Ja.“
    Er lachte. Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, dass ich den Ball Roman schenken wollte.
    „Diese Geschichte ist schlechte Werbung für unsere Stadt.“
    Er dachte nach.
    „Aber trotzdem Werbung.“
    Sechs Monate später benannte ein Restaurant in der Nähe des Landesgerichts in St. Pölten, wo Fritzl verurteilt wurde, das berühmte österreichische Schnitzel in „Wiener Fritzl“ um – vielleicht um ihn als Schwein zu charakterisieren oder aber den Medienvertretern, die über den Prozess berichteten, den genüsslichen Schauder zu bereiten, eine Scheibe vom Körper des Monsters zu verzehren. Die Behörden wurden über diese Geschmacklosigkeit unterrichtet, und der Wirt musste widerwillig das Plakat entfernen, das er an seine Fensterscheibe geklebt hatte.
    Ich zog einen weißen Kittel über, den ich tags zuvor gekauft hatte. Ich versteckte mich hinter einer Tanne und wartete. Eine Tür ging auf, ein Krankenpfleger kam heraus. Roman folgte ihm in einem roten Skioverall und mandelgrünen Moonboots. Er trug noch immer eine dunkle Brille, die die empfindlichen Augen des Kellerkindes vor dem Tageslicht schützten. Er lächelte. Der Pfleger schlug sich kräftig auf die Oberarme, um sich zu wärmen. Er sagte etwas zu Roman, dann entfernte er sich, um eine Zigarette zu rauchen.
    Ich warf den Ball. Roman sah zur Tanne herüber. Ich kam aus meinem Versteck hervor, hob die Hand zum Friedenszeichen wie ein Indianerhäuptling im Western. Er wirkte nicht überrascht, mich zu sehen. Seit seiner Befreiung aus dem Verlies hatte er viele Leute plötzlich auftauchen sehen.
    Ich ging zu ihm. Er rutschte aus, als er den Ball schoss. Ein wenig linkisch stand er wieder auf, wie ein dicker Kosmonaut in Overall und Space-Stiefeln. Ich schoss den Ball zurück. Nach und nach wurde Roman wendiger. Er rannte durch den Schnee. Vielleicht erinnerte er sich schon nicht mehr an den kleinen Plastikkübel mit halb geschmolzenem Schnee, den der Vater an einem Dezembertag in den Keller mitgebracht hatte. Ein vergängliches Geschenk, das ihnen vorkam wie der Frost in der Gefriertruhe.
    Der Pfleger kam zurück zu uns, Atemwölkchen stiegen aus seinem Mund auf. Er hielt mich für einen Kollegen und nickte zum Gruß, den ich ihm auch sogleich entbot.
    „Willst du eine Zigarette?“
    Er zog die Schachtel aus seiner Tasche.
    Ich antwortete: „Ja, ja.“ Auf Deutsch.
    „Arbeiten Sie hier?“
    Ich verstand die Frage nicht, ich weiß auch gar nicht, ob er sie so gestellt hat. Am Abend glaubte ich, mich vom Klang her so daran zu erinnern, der Hotelportier jedenfalls meinte, die Frage so zu verstehen.
    Ich antwortete dem Pfleger einfach mit Ja, aber dieses Mal verriet mich mein Akzent. Er fing an zu schreien – so laut, so heftig, dass Roman weglief. Während der Pfleger hinter ihm herrannte, verschwand ich.
    Außer Atem kam ich zur Straße. Ich winkte den vorbeifahrenden Autos mit ausladenden Armbewegungen zu. Ich stieg in den Kombi einer Frau. Auf alle ihre Fragen antwortete ich, indem ich die Hand hob und auf das Glas meiner Armbanduhr tippte. Sie drückte aufs Gas – sicherlich glaubte sie, dieser komische Pfleger sei auf dem Weg zu einem Notfall. Am Armaturenbrett sah ich die Benzinstandsanzeige aufblinken. Fünfzig Kilometer später hielt die Frau in letzter Minute an einer Raststätte. Ich machte mich aus dem Staub.
    Mit dem Bus fuhr ich zurück nach Wien.
    Ich lief durch die Stadt – eine Stadt wie eine Opernkulisse, wo man ständig darauf wartet, dass sich der Vorhang hebt. Der Verkehrslärm war wie das Geräusch der Zuschauer, die sich in den Gängen anrempeln und ihre Plätze suchen.
    Ich zweifelte nicht daran, an irgendeiner Straßenecke Hitler zu begegnen. In der Zeit um 1910 irrte er hier als armer Schlucker mit seinen braunen Ideen herum, die man fünfzig Jahre
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