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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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später zusammen mit seiner vom Alter ausgemergelten Leiche anonym bestattet hätte. Sein Leben wäre so verlaufen wie das unzähliger vermeintlich Erleuchteter, die am Ende im Hinterzimmer eines Kaffeehauses in Gesellschaft anderer alter Trottel ihrer Generation Unsinn verzapften.
    Ein Armengrab in einer kleinen Gruft auf Pump, ein Irrsinn, geschmückt mit einer umgekehrten Swastika, Frucht eines ganzen Lebens voller Entbehrungen in der Hoffnung, sich auf diesem grandiosen Friedhof bemerkbar zu machen, wo sommers wie winters im Sturmschritt beerdigt wird, damit man schneller zum Leichenschmaus kommt.
    Doch mit fünfundzwanzig Jahren verließ Hitler die Hauptstadt des damaligen Kaiserreichs Österreich-Ungarn. Diese von Nostalgie aufgeweichte Erde, wo Grausamkeit zur masochistischen Wahnvorstellung geworden war, wo Heldentum als ein Luxus von Junkern betrachtet wurde, die ausreichend degeneriert waren, um den Ruhm der Habgier vorzuziehen. Deutschland nahm Hitler auf wie einen räudigen Hund.

Nach seiner Befreiung genoss Roman eine Ausbildung, die der Staat widerwillig finanzierte. Dieser Fall hatte Österreich schon zu viel gekostet, und der makabre Tourismus, der sich für kurze Zeit um Amstetten herum zu entwickeln schien, war schnell wieder eingegangen. Jedenfalls hätte er niemals genügend Steuern abgeworfen, um hoffen zu können, eines Tages all das Geld wieder hereinzuholen, das der Staat für diese gebeutelte Familie aufwenden musste, die man völlig verschlissen aus ihrem Bau geholt hatte.
    Achtzig Kranke zu verlegen, damit die Familie über ein ganzes Spital für sich allein verfügen konnte, hatte sich als ruinös erwiesen. In der ersten Zeit konnten die Kinder die großen Räume nicht ertragen. Sie hatten Angst vor den Glocken, den Treppen und vor allem vor den Fenstern, durch die man aufs Land sah, von Straßen durchzogen wie von Kanälen, auf denen Autos in die Unendlichkeit fuhren. In aller Eile musste man die Kellerwohnung nachbauen, wo sie die Nächte, einen Teil des Tages und manchmal auch mehr verbrachten. Eine Druckkammer. Sie waren wie Taucher, die zu schnell aus der Tiefe an die Oberfläche gekommen waren.
    Angelika hätte das Verlies von Amstetten gern erhalten, um sich dorthin zu flüchten, wenn die Sorgen der Freiheit sie bedrückten. Eine Art Zweitwohnung, ein privater Raum, wo sie diese vierundzwanzig Jahre wiederfinden könnte, in denen sie aus dem Grauen heraus so oft Freude empfunden hatte.
    Petras erste, verspätete Schritte, Martins erstes Lächeln und dieser zauberhafte Moment, als Roman das Kellervölkchen, das zum Osteressen zusammensaß, so zum Lachen gebracht hatte, als er Spaghetti hinunterschlang wie ein Schwertschlucker, den er tags zuvor im Fernsehen gesehen hatte.
    Die ganze Welt blickte auf Österreich, das bezichtigt wurde, in seinem Untergeschoss noch immer Nazi-Höhlen zu beherbergen. Eine Herde unkontrollierbarer, schnüffelnder Sonderkorrespondenten aus aller Welt, die nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in dieser reizlosen Stadt nichts mehr zu tun hatten und jeden Tag zur Pressekonferenz eilten, auf der Polizei und Staatsanwaltschaft sie mit neuen Nachrichten überschwemmten, um den Durst der Bestien zu stillen, die schon wieder dehydriert waren, weil sie die Nachrichten des vergangenen Tages zu schnell ausgepisst hatten. Ein Dunst, mit dem die Satelliten unablässig die Stratosphäre füllten.
    Zwei Wochen nach ihrer Befreiung verlangte Angelika, dass Roman zusammen mit seinem Bruder Martin, der Anfang des Jahres achtzehn geworden war, umgehend in die Schule käme. Von heute auf morgen gingen die beiden in dieselbe Klasse. Eine erste Klasse, der ältere Junge stach heraus wie eine Vogelscheuche in einem Feld voller Bonsais. Das Militär wurde zur Überwachung des Schulgeländes eingesetzt, der Trupp umstellte es in konzentrischen Kreisen wie eine Zitadelle. Man hatte Angst vor Fotos, Videos, Gerüchten, Furcht vor einer Entführung durch undurchsichtige Gruppierungen mit Absichten, die so unwahrscheinlich wie absurd waren.
    Sie blieben lediglich eine Woche dort. In dieser Zeit erschreckten sie ihre Mitschüler mit ihren verstörten Gesichtern, den Sonnenbrillen, die mit einem Gummiband lichtundurchlässig gemacht worden waren, mit ihrer Marotte, im Hof auf allen vieren zu krabbeln, unter Pulten, in Schränken und in den dunklen Toiletten kauernd miteinander zu reden wie Kakerlaken, die sich nur in der Dunkelheit sicher fühlen.
    Schließlich stellte man ein
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