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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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er könne sich gehen lassen und sich am Ende wie Petra und Martin vor der Welt fürchten. Jeden Sommer machte sie mit ihm in warmen Ländern Urlaub, während die beiden zu Hause blieben, Essen aufwärmten, das sie ihnen vorgekocht hatte, ständig fernsahen und im Garten frische Luft schnappten, wenn die Nacht hereingebrochen war.
    Die Kinder von oben ließen sich nie richtig auf ihre Mutter ein. Eine Frau, die zu spät nach oben gekommen war. Ihre Zuneigung zu ihr war ein Lippenbekenntnis, wie man es einer entfernten Tante entgegenbringt. Angelika würde ihnen ihre Gleichgültigkeit nachtragen und sie schließlich verlassen wie undankbare Liebhaber. Ein Verfahren von Kindesaussetzung, bei dem der Staat sie gewähren ließ, wie um sich ein letztes Mal dafür zu entschuldigen, dass er dieses Monster auf seinem Boden hatte wachsen lassen. Mit den Kindern von unten verloren die Kinder von oben schnell wieder den Kontakt. Zwei widerstreitende Rassen, die aus demselben Bauch gekommen waren.
    „Sie erzählen uns alles, was Sie wissen.“
    „Ich weiß nicht …“
    „Sie werden von drei Autoren gecoacht, ein Psychologe wird Ihre Erinnerung wieder auffrischen.“
    Zehn Wochen Arbeit und am Ende ein dickes Manuskript, das man beschnitt wie einen Strauch. Im darauffolgenden Sommer kam das Buch mit großer Furore heraus.
    „Mitte Juni legt man immer die Bestseller auf.“
    Die österreichischen Medien boykottierten das Werk. Kontinentaleuropa schenkte ihm kaum Aufmerksamkeit, man war dieser lange vergangenen Geschichte ganz allgemein müde, deren Mitwirkende mit der Zeit so fantastisch wirkten wie die Figuren aus einem Grimmschen Märchen. In Großbritannien erschienen ein paar Artikel in der Regenbogenpresse, eine Buchvorstellung spät am Abend auf BBC , ein Feature auf einem Privatsender und am Ende ein kümmerlicher Absatz.
    „Und es ist nicht einmal eine Verfilmung in Sicht!“
    Der wütende Verleger besuchte Roman sogar zu Hause, um seinen Kropf zu leeren.
    „Dem Psychologen war klar, dass Sie sich geweigert haben, zu erzählen. Man hätte einen Folterknecht gebraucht, um Sie zum Reden zu bringen. Wenn Sie uns die Tore Ihrer Erinnerung bereitwillig geöffnet hätten, hätten wir reichhaltigeres, stichhaltigeres und womöglich auch neuartiges Material bekommen, um den Verkauf anzukurbeln …“
    Bedrückt starrte Roman auf eine Diele des Parketts.
    „… und hätten uns dieses Fass ohne Boden erspart, in dem wir Ihretwegen nun finanziell sitzen.“
    Mitten im Satz ging er.
    „Wir sind pleite, so sieht’s aus.“
    Er gab ihm weder die Hand noch die Faust, schnell schob er seinen dicken Leib in den Aufzug. Er fuhr ins Untergeschoss, bevor er sich daran erinnerte, dass Roman auf Erdniveau wohnte.
    Roman fürchtete kurz, er müsse alles Geld wieder zurückgeben, um das Defizit auszugleichen, das er mit seiner Amnesie verursacht hatte. Doch er bekam nie eine Zahlungsaufforderung.
    Ein stilles Buch, in dem er nur unbedeutende Vertraulichkeiten von sich gegeben hatte. Die Redakteure sahen sich gezwungen, welche zu erfinden. Sie legten ihm in den Mund, dass sein Vater im Bierrausch Mein Kampf gelesen, eine Hakenkreuztätowierung am Oberkörper gehabt und Anneliese manchmal Essen gebracht habe, das sie oben in Töpfen mit doppeltem Boden voller Feilen zubereitet hatte, mit denen sie in Ermangelung von Gittern unten jedoch nie etwas anfangen konnten.
    In Wirklichkeit erinnerte er sich nicht, ob seine Großmutter jemals im Keller gewesen war. Er erinnerte sich überhaupt nicht mehr an sie. Er hatte sie so selten gesehen, und sie wurde so schnell weggebracht. Danach hatte er nicht mehr von ihr reden hören. Angelika hatte eines Tages von ihrem Tod erfahren, war aber nicht zur Beerdigung gefahren, und die Kinder hatten davon nichts gewusst.
    Roman hatte nicht geredet. Aber seine Mitarbeit an diesem Buch hatte seinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen. Vergrabene Erinnerungen traten aus den Schatten. Sie weckten ihn jede Nacht, wenn sie nacheinander in seinem Kopf aufblitzten. Glückliche Momente unterm Christbaum, den sein Vater im Wald geschlagen hatte und den sie alle zusammen geschmückt hatten. Die Geschenke, die sie mit der Freude von Kindern auspackten, die an der frischen Luft groß geworden waren. Und die fünf Kerzen auf dem Schokoladenkuchen, den Angelika gebacken hatte – er blies sie mit schallendem Lachen unter dem Applaus der ganzen Familie aus.
    Er erinnerte sich auch an die Kälte, an die langen Tage, an
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