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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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Angelikas Anweisungen hinweggesetzt hatte. Die anderen hatten sich geweigert, Kontakt mit ihm aufzunehmen, hatten alle seine Briefe, seine kleinen Geschenke zurückgeschickt, hatten jedes Mal die Telefonnummer geändert, wenn es ihm gelungen war, sie zu finden.
    Seit seiner Volljährigkeit war Roman jeden Samstag mit dem Bus gefahren, um ihn zu besuchen. Im Besucherzimmer umarmten sie sich, manchmal verharrten sie eine halbe Stunde lang schweigend Hand in Hand.
    Langsam gingen sie die Treppen hinunter. An den Wänden hingen Fotos von Würfeln und großen blauen Kugeln. Formen und Farbe hatte ein Gerontologe bestimmt, um den Alten eine gütige Sicht auf das Leben zu ermöglichen. Die einzige Treppe, die Fritzl von nun an nehmen würde.
    Ein Stöhnen auf jeder Stufe. Auf dem Treppenabsatz holt er Luft. Erleichtertes Seufzen, als er schließlich im Foyer angelangt ist.
    Eine Frau mit schütterem Haar erkundigt sich, ob er nicht mehr niesen müsse.
    „Nein, aber abends huste ich noch ein wenig.“
    Gang durch den Aufenthaltsraum, betagte Frauen sitzen in Sesseln. In diesem fortgeschrittenen Alter sind die meisten Männer schon lange tot.
    Roman öffnet die Tür, die in den großen Park hinaus führt. Ein beeindruckendes Heer von Bänken mit hohen Lehnen. Drei bunte Kunstharzplastiken stellen Walt-Disney-Figuren dar.
    Fritzl trägt einen langen grauen Mantel, einen Wollschal, eine Brille mit grünlichen Gläsern. In der Hand hält er einen Regenschirm, der ihm bei gutem Wetter als Gehstock dient. Eine ausgezehrte Gestalt mit kleinen Füßen in Pantoffeln geht lächelnd durch den Park und winkt zum Gruß den Heiminsassen zu, die zusammengesunken auf Bänken sitzen oder einen Rollator vor sich herschieben, unter dessen Rädern der Kies auf den Wegen knirscht.
    Roman hält Fritzl am Arm. Er geht mit erhobenem Kopf, gerecktem Kinn. Ein Mussolini, der Zeit hatte, alt zu werden. Sie machen ein paar Schritte. Fritzl richtet beunruhigt seinen Blick auf Roman.
    „Wo ist sie?“
    „Sie wartet vor dem Tor.“
    „Warum?“
    Roman sagt ihm nicht, dass Angelika ihn nur geschützt vor jedem Körperkontakt sehen will, aus Ekel vor seinem Atem, dem Geruch seines Körpers, obwohl er am Morgen von einem Pfleger gewaschen wurde.
    Fritzl macht sich vom Arm seines Sohnes los.
    „Lass mich.“
    Er stützt sich auf den Regenschirm. Langsam und gleichmäßig geht er weiter wie eine Kamera auf Schienen. Als er Angelika entdeckt, sieht er sie ein wenig verschwommen. Er geht weiter, bis er sie schließlich ganz deutlich in ihrer granatroten Jacke sieht. Ihr Gesicht wird nach und nach größer, er nimmt ihre Gesichtszüge wahr. Glatte Stirn, aufgeworfene Lippen, runde Augen unter glatten Lidern. Er erkennt sie nicht wieder. Letzten Herbst hat sie sich liften lassen, neue Brust, die unter dem dicken Stoff vorsteht. Nur die Hände sind faltig und altersfleckig, als hätte sie vergessen, die Handschuhe auszuziehen.
    „Angelika.“
    Sie sieht ihren Vater, ihren Liebhaber, ihren Mann an. Sie fragt sich, ob sie ihn aus lauter Verzweiflung nicht einmal geliebt hat. Koste es, was es wolle, die Spezies Mensch braucht Liebe, Träume, eine Drogensucht, die sich in der Fruchtblase zusammenzieht.
    Die Karte des Reichs der Liebe, flüchtig eingesehen im Keller. Ein unberechenbarer Liebhaber, niemals pünktlich, immer wieder verschwand er, war immer unterwegs. Wenn er sie verließ, verging sie vor Liebe wie auch vor Hunger, schließlich hatte sie sich diesem Wesen hingegeben, dessen Geschlecht ihr Schmerzen, Freuden und Kinder beschert hatte. Sie schämt sich der Prozession der Erinnerungen, die ihr durch den Kopf geht. Sie weicht zurück, überquert die Straße, will sich ins Auto flüchten. Die Wagentür ist verschlossen. Sie sucht einen Ausweg. Betritt eine Boutique. Versteckt sich in der Anprobekabine. Zieht den Vorhang zu.
    Fritzl beschleunigt seine Schritte, als wolle er durch das Tor gehen und sie aufspüren. Roman ist dicht hinter ihm, er will ihn auffangen, bevor er fällt. Fritzl dreht sich um. Das Gesicht eines verlorenen Greises, dem die Tränen kommen. Er klammert sich an den Arm des Sohnes.
    „Will sie nicht mit mir reden?“
    „Ich weiß nicht.“
    Roman dreht ihn um, führt ihn durch den Aufenthaltsraum und hinauf in sein Zimmer. Fritzl steht vor dem Bett, stützt sich auf den Regenschirm.
    „Setz dich, Papa.“
    Roman schiebt ihm den Sessel hin, Fritzl setzt sich.
    „Willst du schon gehen?“
    Roman verbringt oft den ganzen Sonntag mit
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