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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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Handschelle. Sie zieht ihn, schleift ihn, als hätte sie Angst, er könne in einem Maulwurfsgang verschwinden oder wie ein Fesselballon durch die Dunkelheit davonfliegen.
    Die Fahrzeuge der Bundespolizei parken vor dem Haus. Das Blaulicht erinnert Roman an Fernsehserien. Wieder ein Ausruf, den die Beamtin nur schwerlich versteht.
    „Gut, dass ich draußen bin, dann kann ich jetzt in ein Auto steigen.“
    Die Straße flitzte hinter den Scheiben vorbei. Der Mond zog von einem Fenster ins andere, verschwand wieder, fiel am Ende eines Tunnels auf die Windschutzscheibe. Roman deutete nicht mehr mit dem Finger auf ihn. Er vergrub sein Gesicht in der neuen Daunenjacke, die die Polizistin ihm übergezogen hatte, bevor sie ihn mitgenommen hatte. Er versuchte, sich klein zu machen, wollte unter den Vordersitz kriechen. Von zwei Seiten musste man ihn an den Armen festhalten. Ein Kind, das der Hölle entronnen war, hatte vielleicht einen so heißen Hintern, dass er das Blech schmelzen lassen und mit Lichtgeschwindigkeit nach kurzem Abrollen auf dem Asphalt wieder in diese Hölle zurückgelangen könnte.
    Schlimme Tage. Das Spital, dieses Spukschloss, wo Türen schlugen, wo alles hallte, wo man ihn umherschleppte, ihm Nadeln in die Haut stach, um sein Blut zu klauen, wo die Radiologen ihn bis auf die Knochen entblößten. Und dann dieses bedrohliche Tageslicht hinter den Fensterscheiben, wenn ein Luftzug die doppelten schwarzen Vorhänge bauschte, die man am Tag nach ihrer Ankunft in aller Eile aufgehängt hatte.
    Die zu saubere, zu frische Luft, nur der vertraute Geruch von Chlorbleiche, mit der Angelika täglich Bad und Klo geputzt hatte. Keine Spur von diesem Nestgeruch, von vierundzwanzig Jahren Atem, Schweiß, Windeln in einem Verlies, dessen Lüftungsgitter die abgestandene Luft des Labyrinths hereinließ.
    Man hatte sie gewaschen, desinfiziert, hatte ihre alten Kleider weggeworfen. Sein Bruder und er beschnupperten sich vergeblich mit der Sehnsucht von Vertriebenen, die ihr Leben lang an Tausenden Blumen riechen, ohne je den Duft des kümmerlichen Rosenstocks im Topf wiederzufinden, der auf dem kleinen feuchten, dunklen Küchenbalkon im Haus ihrer Kindheit dem Tod getrotzt hatte.
    Der Kleine fragt oft seine Mutter:
    „Und Papa? Wo ist Papa?“
    Sie bringt ihn mit einem Klaps zum Schweigen.
    Eines Abends, als sie ihn ins Bett brachte, nahm sie seine Hand. Sie drückte sie fest, als könne sie ihm so, Handfläche an Handfläche, die Lüge besser einbläuen.
    „Papa ist tot.“
    Zwei runde Augen, die anschwellen von Tränen. Er hält sie gefangen, um Angelikas breitem Lächeln nicht zu widersprechen.
    Sie streicht ihm mit den Fingerspitzen übers Gesicht.
    „Sei nicht traurig, ein Papa ist zu nichts nütze.“

Angelika antwortete nie auf die Briefe, die ihr der Vater seit seiner Inhaftierung alle zwei Wochen schickte. Zwanzig Jahre später sollte sie ihn wiedersehen. Mit zweiundneunzig Jahren wurde er aus der Haft entlassen. Die Öffentlichkeit hatte ihn vergessen, und die Behörden hatten beschlossen, ihn sowie andere alte Verbrecher loszuwerden, um Platz für junge, anspruchsvolle Delinquenten zu schaffen.
    Roman war der Schmied ihres Wiedersehens. Mit Beharrlichkeit konnte er Angelika überreden, den Vater zu treffen. Ein Greis mit einem Gesicht wie ein schlaffer Vorhang. Man musste genau hinsehen, um seine Gesichtszüge von damals wiederzufinden und sie zu einem einzigen Bild zusammenzufügen, zu einer Art Phantombild des damals schon betagten Mannes, den sie zum letzten Mal an jenem Abend im April 2008 gesehen hatte, am Abend, als sie ihn verraten hatte.
    Sie wollte das Gebäude nicht betreten. Roman setzte sie am Parktor ab. Sie blickten einander an.
    „Ich kann nicht.“
    „Du hast es mir versprochen.“
    Ein Blick, keine Worte. Eine Erinnerung an die Zeit, als die Gedanken der Kellerbewohner manchmal aneinanderstießen, ohne ausgesprochen werden zu müssen.
    Roman stellte sein Auto unter einer blühenden Kastanie ab. Ging um den Zaun herum und durch den Eingang an der Straße. Grüßte eine Krankenschwester. Ging nach oben. Fritzl erwartete ihn vollständig angekleidet im Zimmer stehend.
    „Ist sie da?“
    Ein Stimmchen aus einem Mund mit Lippen, so blass wie die Wangen, nicht zu erkennende Lippen, wie eine zusätzliche Falte mit einer Furche als Öffnung, um Sätze herauszulassen.
    „Wir gehen gleich zu ihr, Papa.“
    Das einzige Kind, das ihn seit der Entdeckung des Verlieses Papa genannt und sich über
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