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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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zusätzlich eine Lichterkette gekauft, rosarote Kugeln, einen großen Stern. Angelika hat die Küche mit künstlichem Schnee aus der Spraydose, mit Glimmer und bunten Zuckerln geschmückt. Der Truthahn war goldbraun, wunderbar, er hat im Kerzenschein geschimmert. Zum Dessert haben wir echten Champagner getrunken. Danach war Bescherung. Die beiden Großen haben je eine Armbanduhr bekommen, sie sind gleich in unser Schlafzimmer gelaufen und haben sie nach der Fernsehzeit gestellt. Mein kleiner Roman hat ein Ritterspiel gekriegt, er ist den ganzen Abend mit seinem Helm und seinem Schwert herumgeritten.“
    ,,Und was haben Sie Angelika geschenkt?“
    Fritzl riss seine Augen auf, sie funkelten vor Stolz.
    ,,Ein Kleid aus schwarzem Satin, Seidenstrümpfe und Pumps mit hohen Absätzen. Sie war immer sehr elegant. Sie haben sie ja kürzlich gesehen, als wir unsere Aussage gemacht haben. Am selben Morgen hat sie sich noch die Haare gefärbt, hat sich tadellos geschminkt und hat dann diesen Trenchcoat getragen, den ich ihr vor vier Jahren geschenkt hatte, um ihr eine Freude zu machen, obwohl sie nie aus dem Haus gegangen ist.“
    ,,Ich erinnere mich nicht.“
    In Wahrheit hatte Petras Krankheit Angelika in den letzten Wochen im Keller fertiggemacht. Sie vergaß darüber die Gesichtsreinigung, die Schönheitsmasken, die sorgfältige Pflege ihres Haars. Allerdings duschte sie weiterhin sechs-, siebenmal am Tag und wusch sich zwanghaft die Hände. Diese Neurose war der Nähe der Ratten geschuldet, sie würde nie davon geheilt werden.
    ,,Meine Tochter ist schön.“
    Nun, da er sie verloren hatte, begehrte er sie wieder. In seiner Erinnerung war sie bereits verjüngt. Bald würde er wieder von ihr besessen sein. Bilder würden sich in seinem Gedächtnis überlagern: Angelika mit zwölf Jahren, mit dreißig, manchmal mit sechzehn, zehn, und dann wäre ihr Aussehen als zahnlose Vierzigjährige nur mehr ein flüchtiges Gespenst, dessen Erscheinen ihm kurz seine Fantasien verderben würde.

Ohne Lebensmittel, nur mit den Kunstseidetüchern auf dem Arm kam er in den Keller. In der Küche aß Martin Zucker und Zwieback. Eine schnelle Befragung bezüglich des Lärms, der Annelieses einfältige Ruhe gestört hatte.
    ,,Wer hat da geschrien?“
    ,,Roman.“
    ,,Du lügst!“
    Fritzl trat Martin, nachdem er ihn zu Boden geschleudert hatte. Angelika kam herein, sie traute sich nicht, in die Erziehungsmaßnahme einzugreifen. Martin rutschte unter den Tisch.
    Müde setzte sich der Vater schließlich hin. Er wollte ein Bier.
    ,,Es gibt keines mehr, wir haben fast nichts mehr.“
    ,,Mach mir einen Kaffee.“
    Auch der Kaffee war aus.
    ,,Petra ist fast tot.“
    ,,Hör endlich mit deinem dummen Geschwätz auf!“
    Er ging ins Kinderzimmer. Petras halb offener Mund, pfeifender Atem, als würde die Luft nur noch durch eine Öffnung, so klein wie ein Mückenstich, in die Lungen vordringen.
    Roman benetzte ihre Stirn mit Wasser, das er aus einer Schüssel schöpfte.
    ,,Und du? Sagst du mir nicht Servus?“
    Er musste sich bücken, um einen Kuss zu bekommen. Ernst wie ein Rettungssanitäter, der eine Herzmassage vornimmt, kühlte das Kind weiter seine Schwester.
    ,,Erbarmen!“
    Ein Wort aus dem Bauch der Mutter, die weinend hinter ihm stand.
    ,,Ich bin müde wegen der Zeitverschiebung.“
    Fritzl ging aus dem Zimmer. Martin lag noch immer unterm Tisch.
    ,,Was machst du da?“
    Er rappelte sich auf, stand auf.
    ,,Du wirst nie ein Mann!“
    Fritzl breitete die Tücher auf dem Tisch aus. Im künstlichen Licht waren sie weniger schillernd. Er gab sie Angelika.
    ,,Du könntest wenigstens Danke sagen! Das nächste Mal bringe ich dir nichts mehr mit.“
    ,,Danke.“
    Bevor er ging, betrachtete er sich im Spiegel über dem Waschbecken. Die Sonne hatte seine Haut zum Glühen gebracht. Er fand, er war gebräunt.
    Angelika ließ Roman am Fußende des Bettes schlafen. Sie duschte. Sie kämmte ihr verstrubbeltes Haar und fönte es. Sie fing an, sich zu schminken, die Tube mit Make-up fiel ihr aus den Händen. Tränen flossen, sie wischte ihr Gesicht mit einem Wattebausch ab.
    In dem letzten Heft, das Fritzl vergangenen Herbst gebracht hatte, waren noch ein paar Seiten frei. Sie setzte sich in die Küche. Sie sagte sich, dass nach Petra auch alle anderen sterben würden. Die Todeszellen sind schraffiert von Sätzen, von denen man nicht mehr weiß, welcher Verurteilte sie geschrieben hat. Eine Spur hinterlassen, einen Fußabdruck. Sich umdrehen und sicher sein, dass
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