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Claustria (German Edition)

Claustria (German Edition)

Titel: Claustria (German Edition)
Autoren: Régis Jauffret
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dem er vom anderen Ende der Welt ein Auge auf seine Kellerfamilie haben und sie beim kleinsten Ordnungsverstoß über einen Lautsprecher verwarnen könnte wie ein Bademeister auf seinem Hochstuhl.
    Bei der Hausdurchsuchung hatte die Polizei im Erdgeschossbüro sechs noch originalverpackte Webcams gefunden und eine Rechnung, die bereits am 18. Januar abgeheftet worden war.
    ,,Ich wollte sie immer bei mir auf dem Handy haben. Mit fünf Kameras hätte ich den ganzen Keller bis in die hinteren toten Winkel abdecken können, und sie hätten sich nicht mehr verstecken können. In meinem Alter habe ich die Feuchtigkeit nicht mehr so gut vertragen. Wenn ich unten geschlafen habe, bin ich mit rheumatischen Schmerzen aufgewacht und hatte Mühe, durch die Luken zu kommen. Im Sommer habe ich nicht so gut Luft gekriegt. Letztes Jahr hatte ich sogar Atembeschwerden. Angelika hat große Angst bekommen, ich bin blass geworden und in Ohnmacht gefallen.“
    ,,Angelika hatte Angst, dass sie mit ihren Kindern da unten im Loch bleiben müsste?“
    Er kratzte sich am Schnauzbart.
    ,,Sicherlich. Aber bevor die Polizei sie aufgehetzt hat, war sie in mich verliebt. Wenn wir miteinander geschlafen haben, hat sie oft zu mir gesagt: ‚Ich liebe dich.‘ Vielleicht, um größere Lust zu bekommen – sie hat sich so viele Fernsehsendungen angesehen, in denen es heißt, es sei aufregender, wenn man verliebt ist.“
    ,,Hatten Sie wirklich vor, diese Webcams zu installieren?“
    ,,Je älter ich geworden wäre, desto seltener wären meine Besuche zwangsläufig geworden. Von Zeit zu Zeit hätte ich einen Großeinkauf gemacht, damit es ihnen an nichts gefehlt hätte. Durch die Kameras wäre ich ständig mit ihnen in Kontakt geblieben. Und wenn ich dann hinuntergegangen wäre, wäre es ein großes Fest gewesen.“
    Der Inspektor stellte sich die Freudentänze vor und zog eine Grimasse.
    ,,Es wurde immer mühseliger für mich, all diese Lasten zu schleppen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Tonnen Lebensmittel und Müll ich jedes Jahr hinunter- und hinauftransportieren musste. Anfangs hatte ich Pläne für einen Lastenaufzug ausgearbeitet, der neben der Treppe an einer Schiene laufen sollte, dann habe ich ein Förderband bis in den Keller geplant. Ich habe lange überlegt, aber die Baumaßnahmen wären zu umfangreich gewesen, und danach hatte ich keine Kraft mehr.“
    Er schlug die Hände vors Gesicht. Langsam spreizte er seine Finger, sein Blick tauchte wieder auf.
    ,,Ich wollte zuschauen, wie sie leben, schlafen, erwachen, vom Tisch aufstehen, von einem Zimmer ins andere gehen, wollte sie sprechen hören. Ich wollte aus dem Keller eine Art Glaskasten machen. Wie im Fernsehen, wenn man die Kandidaten wochenlang in eine Villa sperrt. Aber es war kompliziert. Unten konnte ich kein Internet anschließen – jede Schutzsoftware hat auch ihre Schwachstelle. Angelika hätte versuchen können, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Ich wollte auf jeden Fall vermeiden, dass meine Familie brutal dort herausgezogen wird. Eine Familie ist wie eine Pflanze, man kann sie nicht einfach so umtopfen. Den Kindern hat man sehr geschadet, indem man sie ohne Vorwarnung aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen hat. Ich wollte ihnen die Außenwelt ganz langsam nahebringen und sie zusammen mit ihrer Mutter sanft in unsere Familie oben integrieren. Ich wollte, dass wir bald eine Patchwork-Familie sind, wie man heute sagt.“
    Fritzl zögerte bis zum Schluss: Sollte er immer seltener hinuntergehen und ihnen bei ihrem Leben zusehen oder sollte er sie zurückführen, sodass sie nach einer Probezeit Streifzüge außerhalb des Hauses machen und nach und nach ins normale Leben integriert werden könnten?
    Er sah den Polizisten an.
    ,,Sie haben ihnen schwer geschadet. Ihretwegen werden sie sich nie wieder davon erholen. Es ist nicht Aufgabe der Polizei, Kinder von ihrem Vater zu trennen und ihnen einzureden, ihn nicht mehr lieben zu dürfen. Und Angelika? Sie glaubt jetzt, dass sie vierundzwanzig Jahre lang unglücklich gewesen sei. Sie erinnert sich nicht mehr daran, dass es im Keller auch viele Glücksmomente gegeben hat.“
    Fast wären Fritzl so etwas wie Tränen in die Augen gestiegen.
    ,,Sie haben die Fotos von unserem letzten Weihnachtsfest gesehen. Alle waren fröhlich. Es war uns völlig egal, was draußen war.“
    Ein zärtliches Lächeln auf seinem Gesicht.
    ,,Wir haben zusammen O Tannenbaum gesungen. Und unser Christbaum war wirklich schön. Ich habe
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