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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
Autoren: José Saramago
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Gelegenheit.«
    »Diese Art zu denken nennt man Pessimismus, und wer so denkt, hilft denen, die keine Liebe unter den Menschen wollen.«
    »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie kränke, aber das ist alles utopisch. Das Leben ist ein Kampf, jederzeit und überall. Es ist ein ›Rette-sich-wer-kann‹, nichts anderes. Die Schwachen predigen Liebe, Hass ist die Waffe der Starken. Hass auf ihre Rivalen, ihre Konkurrenten, auf alle, die dasselbe Stück Brot, dasselbe Stück Land, dieselbe Erdölquelle haben wollen. Liebe dient nur dazu, andere zu verhöhnen oder den Starken Gelegenheit zu geben, sich an der Schwäche der Schwachen zu weiden. Dass es Schwache gibt, ermöglicht ihnen Entspannung, ihre Existenz dient als Überlaufventil.«
    Silvestre gefiel der Vergleich offenbar nicht. Er sah Abel sehr ernst an. Dann lachte er abrupt und fragte:
    »Gehören Sie zu den Starken oder zu den Schwachen?«
    Der junge Mann fühlte sich ertappt.
    »Ich? … Die Frage ist nicht fair!«
    »Dann helfe ich nach. Wenn Sie zu den Starken gehören, warum verhalten Sie sich dann nicht wie die? Wenn Sie zu den Schwachen zählen, warum verhalten Sie sich dann nicht wie ich?«
    »Lächeln Sie nicht so siegessicher. Ich sage es noch einmal, das ist nicht fair.«
    »Aber ich möchte eine Antwort!«
    »Ich kann das nicht beantworten. Vielleicht gibt es eine Zwischenart. Auf der einen Seite die Starken, auf der anderen die Schwachen und in der Mitte ich und … alle anderen.«
    Silvestre hörte auf zu lächeln. Er richtete den Blick fest auf Abel und antwortete bedächtig, wobei er seine Aussagen an den Fingern abzählte.
    »Dann will ich für Sie antworten. Sie wissen nicht, was Sie wollen, Sie wissen nicht, wohin Sie gehen, Sie wissen nicht, was Sie haben.«
    »Kurzum: Ich weiß nichts!«
    »Ich meine es ernst. Was ich Ihnen jetzt sage, ist sehr wichtig. Als ich seinerzeit erwähnte, Sie müssten für sich herausfinden, welchen …«
    »Nutzen ich davon habe, ich weiß …«, fiel ihm Abel gereizt ins Wort.
    »Als ich das sagte, ahnte ich ja nicht, dass Sie so schnell wieder ausziehen würden. Ich sagte damals auch, ich könne Ihnen keinen Rat geben. Ich sage all das jetzt noch mal. Aber Sie gehen morgen weg, vielleicht sehen wir uns nie wieder … Ich dachte, wenn ich Ihnen keinen Rat geben kann, dann kann ich Ihnen doch zumindest sagen, dass ein Leben ohne Liebe, das Leben, so, wie Sie es eben beschrieben haben, kein Leben ist, sondern ein Dreckhaufen, eine Gosse!«
    Abel sprang impulsiv auf.
    »Ja, genau das ist es! Und was können wir tun?«
    »Es verändern!«, antwortete Silvestre und stand ebenfalls auf.
    »Und wie? Indem wir einander lieben?«
    Abels Lächeln verschwand angesichts Silvestres ernster Miene.
    »Ja, aber mit bewusster, aktiver Liebe, einer Liebe, die den Hass besiegt!«
    »Aber der Mensch …«
    »Hören Sie, Abel. Wenn jemand ›der Mensch‹ sagt, sollten Sie an die Menschen denken. Der Mensch, wie man mitunter in der Zeitung liest, ist eine verlogene Erfindung, die als Deckmantel für sämtliche Schweinereien dient. Alle wollen ›den Menschen‹ retten, aber niemand kümmert sich um ›die Menschen‹.«
    Abel zuckte mutlos die Achseln. Er wusste, dass Silvestre mit seinen letzten Worten etwas Wahres gesagt hatte, er selbst hatte dies schon oft gedacht, aber er besaß nicht des Schusters Zuversicht. Er fragte:
    »Und was können wir tun? Sie? Ich?«
    »Wir leben unter den Menschen, also helfen wir ihnen.«
    »Und was tun Sie, um ihnen zu helfen?«
    »Ich flicke ihnen die Schuhe, denn etwas anderes kann ich nicht tun. Sie sind jung, Sie sind intelligent, Sie sind nicht auf den Kopf gefallen … Machen Sie die Augen auf und sehen sich um, und wenn Sie dann noch nicht verstanden haben, schließen Sie sich zu Hause ein und bleiben da, bis die Welt über Ihnen zusammenbricht!«
    Silvestre hatte die Stimme erhoben. Seine Lippen zitterten vor Erregung. Die beiden Männer standen sich Auge in Auge gegenüber. Zwischen ihnen schwang Verständnis, ein stummer Gedankenaustausch, der beredter war als alle Worte. Abel murmelte widerstrebend lächelnd:
    »Sie müssen zugeben, dass es ziemlich subversiv ist, was Sie sagen …«
    »Meinen Sie? Ich glaube nicht. Wenn dies subversiv ist, dann ist alles subversiv, sogar das Atmen. Ich denke und fühle so, wie ich atme, es ist für mich gleichermaßen selbstverständlich und notwendig. Wenn die Menschen sich hassen, kann man nichts machen. Dann werden wir alle dem Hass zum Opfer
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