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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
Autoren: José Saramago
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Leben.«
    »Das habe ich doch vorhin gesagt. Allein die Tatsache, dass wir existieren, kann schon schlecht sein.«
    »Für mich war es gut. Ich habe Sie kennengelernt und bin Ihr Freund geworden.«
    »Und was haben Sie davon?«
    »Freundschaft. Ist das wenig?«
    »Nein, sicherlich …«
    Silvestre antwortete nicht. Er zog den Stuhl ans Bett und setzte sich. Dann nahm er Tabak und Zigarettenpapier aus der Westentasche und drehte sich eine Zigarette. Durch die aufsteigende Rauchwolke sah er Abel an und murmelte halb im Scherz:
    »Ihr Problem, Abel, ist, dass Sie nicht lieben.«
    »Ich bin Ihr Freund, und Freundschaft ist eine Form von Liebe.«
    »Stimmt …«
    Wieder trat eine Pause ein, während Silvestre den jungen Mann unverwandt ansah.
    »Woran denken Sie?«, fragte Abel.
    »An unsere alten Diskussionen.«
    »Ich sehe keinen Zusammenhang mit …«
    »Alles hängt zusammen … Als ich sagte, Ihr Problem ist, dass Sie nicht lieben, haben Sie da angenommen, ich meine die Liebe zu einer Frau?«
    »Ja, das dachte ich. Tatsächlich habe ich viele Frauen gerngehabt, aber keine geliebt. Ich bin verdorrt.«
    »Mit achtundzwanzig Jahren? Dass ich nicht lache! Werden Sie erst mal so alt wie ich!«
    »Mag sein. Meinten Sie nun eigentlich die Liebe zu einer Frau oder nicht?«
    »Nein.«
    »Was dann?«
    »Die andere Art von Liebe. Passiert es Ihnen nie, dass Sie auf der Straße plötzlich am liebsten alle Menschen umarmen möchten?«
    »Wenn ich witzig sein wollte, würde ich sagen, dass ich nur die Frauen umarmen möchte, und auch nicht immer alle … Aber warten Sie … Nicht böse werden. Nein, das ist mir tatsächlich nie passiert.«
    »Das ist die Liebe, von der ich gesprochen habe.«
    Abel stützte sich auf die Ellbogen und sah den Schuster neugierig an.
    »Wissen Sie was? Sie gäben einen hervorragenden Apostel ab.«
    »Ich glaube nicht an Gott, falls Sie darauf hinauswollen. Vielleicht halten Sie mich für sentimental …«
    Abel protestierte:
    »Nein, keineswegs!«
    »Vielleicht denken Sie, das liegt am Alter. Wenn es so ist, bin ich schon immer alt gewesen. Ich habe schon immer so gedacht und gefühlt. Und wenn ich heute an irgendetwas glaube, dann an die Liebe, diese Art von Liebe.«
    »Das … das ist schön, wie Sie das sagen. Aber es ist eine Utopie. Und auch ein Widerspruch. Haben Sie nicht gesagt, dass das Leben ein einziger Dreckhaufen ist und voller Schweinereien?«
    »Ich widerspreche mir nicht. Das Leben ist ein Dreckhaufen und voller Schweinereien, weil einige es so gewollt haben. Und die hatten und haben immer noch Nachfolger.«
    Abel setzte sich auf. Das Gespräch begann ihn zu interessieren.
    »Würden Sie die auch umarmen wollen?«
    »So weit geht es mit meiner Sentimentalität nicht. Wie könnte ich die lieben, die für die Lieblosigkeit unter den Menschen verantwortlich sind?«
    Dieser Satz weckte in Abel eine Erinnerung.
    »Pas de liberté pour les ennemis de la liberté …«
    »Das verstehe ich nicht. Es klingt französisch, aber ich verstehe es nicht …«
    »Das ist ein Satz von Saint-Just, einem Mann der Französischen Revolution. Es bedeutet ungefähr, dass es für die Feinde der Freiheit keine Freiheit geben darf. Auf unser Gespräch übertragen könnte man sagen, dass wir die Feinde der Liebe hassen müssen.«
    »Er hatte recht, dieser …«
    »Saint-Just.«
    »Ja. Finden Sie nicht auch?«
    »In Bezug auf den Satz oder auf alles andere?«
    »Beides.«
    Abel schien konzentriert nachzudenken. Dann antwortete er:
    »In Bezug auf den Satz stimme ich Ihnen zu. Aber was den Rest betrifft … Mir ist nie jemand begegnet, den ich mit dieser Liebe hätte lieben können. Und ich habe wirklich viele Menschen kennengelernt. Die sind alle einer schlechter als der andere. Vielleicht ist mir mit Ihnen die Ausnahme begegnet. Nicht wegen der Dinge, die Sie mir gesagt haben, sondern wegen all dem, was ich von Ihnen und Ihrem Leben weiß. Ich verstehe, dass Sie auf diese Weise lieben können, ich kann es nicht. Ich habe viele Schläge einstecken müssen und zu viel gelitten. Ich werde nicht, wie es da heißt, die linke Wange dem hinhalten, der mich auf die rechte geschlagen hat …«
    Silvestre fiel ihm vehement ins Wort.
    »Das würde ich auch nicht. Ich würde die Hand abhacken, die mich geschlagen hat.«
    »Wenn alle sich so verhielten, hätte kein Mensch mehr beide Hände. Wer geschlagen wurde, wird eines Tages zurückschlagen, wenn nicht sofort, dann später. Es ist nur eine Frage der
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