Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
Autoren: José Saramago
Vom Netzwerk:
von
Radio Nacional
. Sie dachte, dass sie schon seit langem nicht mehr bewusst Musik gehört hatten. Sie griff nach der Zeitschrift, schlug sie auf und suchte nach dem Programm des Tages. Nachrichten, Reden, Musik … plötzlich blieb ihr Blick fasziniert an einer Zeile hängen. Sie las die drei Wörter immer wieder. Drei Wörter nur: eine ganze Welt. Langsam legte sie die Zeitschrift ab. Ihr Blick hing noch immer an einem Punkt irgendwo im Raum. Als hoffte sie auf eine Offenbarung. Und dann kam die Offenbarung.
    Rasch legte sie die Schürze ab, schlüpfte in die Schuhe und zog den Mantel an. Sie öffnete ihre eigene Schublade, nahm ein kleines Schmuckstück heraus, eine alte goldene Brosche in Form einer Lilienblüte. Auf einen Zettel schrieb sie: »Ich musste weg. Macht bitte das Essen. Keine Sorge, es ist nichts Ernstes. Amélia.«
    Als sie so erschöpft, dass sie kaum mehr gehen konnte, gegen Abend nach Hause kam, brachte sie ein Päckchen mit und trug es in ihr Zimmer. Sie weigerte sich, zu erklären, warum sie aus dem Haus gegangen war.
    »Du bist ja so müde!«, bemerkte Cândida.
    »Das stimmt.«
    »Ist irgendetwas passiert?«
    »Das ist ein Geheimnis, vorläufig.«
    Sie saß auf einem Stuhl und lächelte ihre Schwester an. Lächelnd sah sie Isaura und Adriana an. Und ihr Blick war so sanft, ihr Lächeln so liebevoll, dass die Nichten gerührt waren. Wieder fragten sie, doch Amélia schüttelte stumm den Kopf, mit dem gleichen Blick und dem gleichen Lächeln.
    Sie aßen zu Abend. Danach saßen sie zusammen. Kleine Arbeiten, lange Minuten. Irgendwo nagte ein Holzwurm. Das Radio schwieg.
    Gegen zehn Uhr stand Amélia auf.
    »Gehst du schon schlafen?«, fragte ihre Schwester.
    Wortlos schaltete sie das Radio ein. Musik erfüllte die Wohnung, Orgelklänge, die wie ein nie versiegender Strom durch den Raum fluteten. Cândida und ihre Töchter blickten überrascht auf. Etwas in Amélias Miene machte sie neugierig. Das gleiche Lächeln, der gleiche Blick. Dann, nach einem Finale von barocker Klanggewalt, verstummte die Orgel. Sekundenlange Stille. Der Sprecher kündigte das nächste Stück an.
    »Die Neunte! Oh, wie schön, Tante Amélia!«, rief Adriana und klatschte wie ein Kind in die Hände.
    Alle setzten sich bequemer zurecht. Amélia verließ den Raum und kehrte zurück, als der erste Satz schon begonnen hatte. Sie legte das Päckchen auf den Tisch. Ihre Schwester sah sie fragend an. Amélia nahm ein Foto von der Wand. Langsam, als ginge es um ein Ritual, wickelte sie das Päckchen aus. Die Musik wurde nicht mehr so recht beachtet. Das Papierknistern störte. Noch eine Bewegung, das Papier fiel zu Boden, und es erschien – die Beethoven-Maske.
    Es war wie das Ende eines Aktes. Doch es fiel kein Vorhang. Amélia sah Adriana an und erklärte, während sie die Maske an die Wand hängte:
    »Ich kann mich erinnern, dass du einmal gesagt hast, du hättest gern seine Maske … Ich wollte dir eine Überraschung bereiten …«
    »Oh, liebe Tante Amélia!«
    »Aber … aber das Geld?«, fragte Cândida.
    »Das ist egal«, antwortete Amélia. »Das ist ein Geheimnis.«
    Bei diesem Wort sahen Adriana und Isaura ihre Tante verstohlen an. Aber in deren Blick lag kein Misstrauen mehr. Nur sehr viel Zärtlichkeit, eine Zärtlichkeit, die durch etwas hindurchschimmerte, das man für Tränen hätte halten können, wenn Tante Amélia nah am Wasser gebaut hätte …

35
    » A bel verspätet sich wohl. Willst du jetzt essen?«
    »Nein. Lass uns noch etwas warten.«
    Mariana seufzte.
    »Vielleicht kommt er auch gar nicht. Nun warten zwei auf einen …«
    »Wenn er nicht zum Essen käme, hätte er Bescheid gesagt. Wenn du nicht warten willst, kannst du ja essen. Ich habe nicht so großen Hunger.«
    »Ich auch nicht …«
    Als sie die Tür hörten, zuckten sie zusammen. Abel kam herein.
    »Nun?«, fragte Silvestre.
    »Nichts.«
    »Sie haben nichts erreicht?«
    Der junge Mann zog einen Hocker heran und setzte sich.
    »Ich bin ins Büro gegangen. Habe zum Bürodiener gesagt, ich sei ein Kunde und wolle mit Senhor Morais sprechen. Ich wurde in einen Raum geführt, und kurz darauf kam er. Kaum hatte ich erklärt, weshalb ich gekommen war, klingelte er, und als der Bürodiener erschien, wies er ihn an, mich zur Tür zu bringen. Ich wollte noch etwas sagen, aber er drehte mir den Rücken zu und ging. Im Flur begegnete mir die Kleine aus dem zweiten Stock, die sah mich verächtlich an. Kurz, man hat mich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher