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Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt

Titel: Claraboia oder Wo das Licht einfaellt
Autoren: José Saramago
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einer Kette, eine Brosche, der zwei Steine fehlten, eine Orangenblütenknospe (Erinnerung an die Hochzeit einer Freundin) und wenig mehr. Hinten in der Schublade ein größerer Kasten, geschlossen. Die Fotos beachtete sie nicht weiter, sie waren zu alt, um von Interesse zu sein. Vorsichtig, um die Lage der anderen Dinge nicht zu verändern, nahm sie den größeren Kasten heraus. Sie schloss ihn mit dem kleinsten Schlüssel auf und erblickte, was sie suchte: das Tagebuch. Und mehr noch: ein Bündel Briefe, mit einem ausgeblichenen grünen Band verschnürt. Sie löste das Band nicht; die Briefe kannte sie, alle von 1941 und 1942 . Überbleibsel einer gescheiterten Liebelei von Adriana, ihrer ersten und einzigen Liebelei. Sie fand es abwegig, diese Briefe zehn Jahre nach dem Bruch noch immer aufzubewahren.
    An all das dachte Amélia, während sie das Tagebuch aus dem Kasten nahm. Äußerlich hätte es nicht banaler und prosaischer sein können. Es war ein einfaches Kollegheft, wie es Studenten benutzen. Auf den Deckel hatte Adriana, abgesehen von ihrem vollständigen Namen, in die dafür vorgesehene Zeile mit schönster Schrift in leicht gotisch anmutenden Großbuchstaben das Wort TAGEBUCH geschrieben, hingebungsvoll und kindlich zugleich. Wahrscheinlich hatte sie sich auf die Zunge gebissen, während sie die Buchstaben malte, so als setzte sie ihr ganzes kalligraphisches Können ein. Die erste Seite war vom 10 . Januar 1950 datiert, also von vor mehr als zwei Jahren.
    Amélia begann zu lesen, stellte aber schnell fest, dass es nichts Interessantes gab. Sie übersprang Dutzende Seiten, alle in derselben steilen, eckigen Schrift beschrieben, und blieb auf der letzten Seite hängen, die ihre Nichte geschrieben hatte. Schon bei den ersten Zeilen hatte sie das Gefühl, fündig geworden zu sein. Adriana sprach von einem Mann. Sie nannte keinen Namen, bezeichnete ihn nur als »er«. Es war ein Kollege, das ging klar daraus hervor, doch nichts ließ den schweren Fehltritt vermuten, den Amélia erwartet hatte. Sie las die Seiten davor. Klagen über Gleichgültigkeit, ein Anflug von Ärger über die Schwäche, einen Menschen zu lieben, der, wie sie folgerte, es nicht wert war, all das vermischt mit Einträgen über kleine Ereignisse des häuslichen Lebens, Beurteilungen von Musik, die sie gehört hatte, kurz nichts, was Amélias Verdacht gerechtfertigt hätte. Bis sie zu der Stelle kam, wo Adriana darüber schrieb, dass Mutter und Tante am 23 . März die Cousinen in Campolide besucht hatten. Amélia las aufmerksam: ein langweiliger Tag … das Besticken des Lakens … die Selbstbezichtigung, hässlich zu sein … der Stolz … der Vergleich mit Beethoven, der auch hässlich war und nicht geliebt wurde … »Hätte ich zu seiner Zeit gelebt, dann wäre ich imstande gewesen, ihm die Füße zu küssen, und das, wette ich, hätte keine schöne Frau getan.« (Arme Adriana! Sie hätte Beethoven geliebt, hätte ihm die Füße geküsst, als wäre er ein Gott …) Isauras Buch … Isauras Gesicht, froh und schmerzerfüllt … Schmerz, der ein schönes Gefühl auslöste, und das schöne Gefühl, das Schmerz auslöste …
    Amélia las es immer wieder. Sie ahnte dumpf, dass hierin die Erklärung für das Geheimnis lag. An einen schweren Fehltritt dachte sie inzwischen nicht mehr. Adriana hatte Gefallen an dem Mann, keine Frage, aber dieser Mann liebte sie nicht … »Wie soll er mich eifersüchtig machen wollen, wenn er gar nicht weiß, dass ich ihn mag?« Selbst wenn Adriana in jener Nacht ihrer Schwester von ihrer Liebe erzählt haben sollte, hätte sie nicht mehr sagen können, als da stand. Und auch wenn sie, um eine eventuelle Indiskretion zu vermeiden, nicht alles in ihr Tagebuch schrieb, was sie erlebte, hätte sie nicht geschrieben, dass »er« sie nicht liebte! Selbst wenn sie noch so unaufrichtig gewesen wäre, die ganze Wahrheit hätte sie nicht verbergen können. Sonst wäre ihr Tagebuch sinnlos. Denn ein Tagebuch dient dazu, sich die Dinge von der Seele zu schreiben. Und das Einzige, was sie sich von der Seele geschrieben hatte, war der Kummer über eine nicht erwiderte Liebe, von der der Betreffende obendrein nicht einmal wusste. Was also war der Grund dafür, dass die beiden Schwestern so kühl geworden waren, sich so zurückgezogen hatten?
    Amélia blätterte zurück und las weiter. Immer dieselben Klagen, der Ärger im Büro, die Geschichte mit einer falschen Berechnung, Musik, Namen von Musikern, Nörgeleien
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