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Ciara

Ciara

Titel: Ciara
Autoren: Nicole Rensmann
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Ringsherum standen Regale, die unzählige dicke Bücher mit schweren dunklen Einbänden enthielten, sowie diverse Tiegel, Flakons und ähnliche Behältnisse. Die unterschiedlichsten Heilpflanzen verdeckten die Sicht durch die Fenster. Ein alter Schrank aus Mahagoni verwehrte ihm den Blick in sein Inneres.
    Das Frettchen lag auf einem runden Tisch inmitten des Raumes und schlief. Als Paul nun nach ihm rief, richtete es sich auf, gähnte gelangweilt, streckte den langen Körper und wuselte auf Paul zu, kletterte vom Hosenbein auf seinen Arm und legte sich auf der Schulter nieder.
    Beim Hinausgehen erfasste Paul aus dem Augenwinkel ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Boden lag, daneben klebten mehrere Wachskleckse, die von heruntergebrannten Kerzen stammen mussten. Seine Neugier wollte ihn näher heranschieben, doch das Klingeln eines Telefons lenkte ihn ab. Paul erschrak, sein Blick jagte durch den leeren Raum. Er nahm das Frettchen in die Hand und rannte in den Flur, die Treppe hinunter. Im Foyer hallte das Schellen deutlicher in seine Ohren, eine innere Unruhe und seine durch den schrillen Ton geweckte Intuition trieben ihn aus dem Haus und zu seinem Auto. Unsanft schubste er das Frettchen, das daraufhin beleidigt murrte, auf den Beifahrersitz. Dann gab er Gas und dankte göttlichen Mächten dafür, dass er, nachdem er auf die Hauptstraße abgebogen war, freie Fahrt hatte und alle Ampeln Grün zeigten. Nach weniger als zehn Minuten stellte er seinen Wagen auf dem für ihn reservierten Parkplatz ab und eilte ins Krankenhausgebäude. Sein linker kleiner Finger begann schmerzlich an der Kuppe zu jucken – obwohl ihm exakt dieses letzte Glied fehlte.
    Beim Anblick des mit Blut getränkten Kopfkissens, das er an Ciaras Stelle in ihrem Zimmer antraf, regte sich eine eigenartige Empfindung in ihm, eine Erinnerung, etwas, das er längst vergessen geglaubt hatte. Wie erstarrt blieb er im Türrahmen stehen und wollte nicht wahrhaben, dass die Bilder, die in rascher Folge vor seinem geistigen Auge aufglommen, aus seiner Vergangenheit stammten.
    »Verdammt, Paul, wo warst du denn?« Mike riss ihn an der Schulter herum und aus seiner Trance. »Sie ist oben, auf der Intensiv.«
    Endlich reagierte Paul, rannte den Flur entlang, ignorierte den Fahrstuhl und nahm immer zwei Stufen gleichzeitig, bis er die Intensivstation erreichte. Dort drosselte er sein Tempo, erkundigte sich nach dem Zimmer, auf dem Ciara lag, zog sterile Kleidung über und betrat leise den abgedunkelten Raum.
    Ihr Gesicht – so blass wie das Kissen, auf dem ihr Kopf ruhte, die Augen blieben bei seinem Eintreten geschlossen, die Atmung flach. Ein neuer Verband schützte die Verletzung an ihrem Hals.
    Aus ihrer rechten Faust lugte ein Teil der Kette hervor. Beinahe zärtlich bog er ihre Finger auseinander, nahm das Schmuckstück an sich, hob ihren Kopf sachte an und streifte ihr die Kette darüber. Nun lag das Amulett zwischen ihren Brüsten und bebte im Takt der Atmung.
    Er ignorierte das Gefühl des Beobachtetwerdens, das der Stein vermittelte, griff nach dem Krankenblatt und studierte die Blutwerte. Eine Augenbraue schob sich ein Stück nach oben. Er wischte sich die Gedanken mit den Fingern von der Stirn, bis sie klar auf seiner Handfläche lagen. Mit Entsetzen betrachtete er die neu eingehängte Blutkonserve, die Ciaras Körper über eine Kanüle versorgte.
    Eine Befürchtung griff nach Paul, seine Hände begannen zu zittern und er bekam Magenkrämpfe. Er stürzte auf den Flur, von dort zur Toilette und übergab sich. Als er in das Zimmer zurückkehrte, in dem Ciara schlief, riss er das Blatt mit den Blutwerten ab, steckte den Zettel in seine Hosentasche, kritzelte unter das Krankenblatt die aktuelle Uhrzeit mit dem Wort ›Exitus‹ und hängte die Mappe an ihren Platz zurück.
     
    Schwarze Federn wuchsen aus den Fingerspitzen, ihre Arme verwandelten sich in kurze, mit flaumigen Federn bedeckte Stummel. Die Haut ihres Schädels zog sich zusammen und passte sich dem geschrumpften Kopf an. Sie beugte sich nach vorn, bis Bauch und Brustkorb die Oberschenkel berührten und miteinander zu einem neuen Körper verschmolzen. Nur ihre Füße ähnelten noch denen eines Menschen. Sie erhob sich und testete ihre Flügel. Ciara lächelte und schloss die Augen – nur für Sekunden. Als sie wieder aufschaute, flog sie wie ein Adler über diesen Ort, der in einer Welt lag, von der ihre Mutter zu Lebzeiten erzählt hatte und die sie seit ihrer Kindheit in den Träumen
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