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Ciara

Ciara

Titel: Ciara
Autoren: Nicole Rensmann
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Spiegel, der jeden Besucher – willkommen oder nicht – sofort entlarvte. Links und rechts davon ging jeweils eine Tür ab. Bedächtig schloss Paul das Eingangsportal. Als er tiefer in die Halle trat, die ihm so groß wie ein Tanzsaal erschien, weiteten sich seine Augen vor Erstaunen. Seine Tritte hallten auf dem schwarzweiß karierten Marmorboden. Ringsherum standen in regelmäßigen Abständen fünf kleine antike Tischchen mit eingekerbten Intarsien.
    Die Decke befand sich so weit über ihm, dass er sich an ein Elefantenhaus erinnert fühlte, das er vor Jahren besucht hatte. Hier verzierten zusätzlich feine Stuckgirlanden die Übergänge von Decke und Wand. Rechts von ihm führte eine Treppe in die erste Etage. Dieser gegenüber entdeckte Paul zwei Bilder. Er stieß einen bewundernden Pfiff aus und trat näher heran; eine Leinwand lehnte auf der Staffelei, an der Wand darüber hing ein Gemälde. Der Künstler hatte kräftige Ölfarben, aber kurze, zarte Pinselstriche verwendet und das Gesicht einer einzelnen Person festgehalten: Ciara Duchas. Auf dem goldfarben gerahmten Bild musste sie zehn oder elf Jahre alt sein. Das krause, schulterlange, orangerote Haar umrandete das puppenähnliche Gesicht wie ein Feuerring. Ihr Mund lächelte ihn an, die blauen Augen drückten Freude aus. Das zweite Bild schien erst vor Kurzem entstanden zu sein: Das kindliche Gesicht war dem einer erwachsenen Frau gewichen, deren Augen und Mimik Erfahrungen wiedergaben, wie sie einer Neunzehnjährigen selten widerfuhren. Ihre Haare fielen wie ein glatter Vorhang hinab, lediglich die Seitenpartien wellten sich widerspenstig und deuteten auf ihre krause Vergangenheit hin.
    Etwas irritierte Paul an dem Gemälde, aber er konnte den Makel nicht exakt definieren. Eine Weile noch begutachtete er Ciaras plastisch gemaltes Gesicht, bevor er sich dem Grund seines Besuches widmete.
    Er rief nach dem Tier und empfand es als albern, nur nach ›Frettchen‹ zu rufen, doch er konnte sich nicht erinnern, ob Ciara einen Namen genannt hatte. Paul durchwanderte die Halle und öffnete die Tür links neben dem Spiegel. Die Dämmerung, die ihn begrüßte, überraschte ihn. Er sog sie in sich auf wie ein ausgedorrter Schwamm, der in eine tiefe Pfütze gefallen war. Für eine kurze Weile lehnte sich Paul gegen den Türrahmen und genoss die Ruhe. Dunkelrote, schwere Samtvorhänge, die verandagroße Fenster verdeckten, hielten die winterlichen Sonnenstrahlen fern. Er stieß sich von der Zarge ab und ging tiefer in den Raum. Links erkannte er den offenen Zugang zu einem Einbauschrank. Ein Himmelbett aus einem schwarzen Edelholz füllte den größten Teil des Zimmers aus. Stoffbahnen aus weißem Satin umrankten die gedrechselten Holzverstrebungen des Bettes und fielen geschmeidig auf den Marmorboden, der die schwarzweiße Struktur der Eingangshalle fortführte. Instinktiv spürte er, dass sich das Frettchen hier nicht aufhielt. Paul schloss die Tür und plante, die nächste – rechts neben dem Spiegel – auszuprobieren, doch er vernahm ein Geräusch über sich und wählte die Treppe, die aus dem gleichen Holz angefertigt worden war wie die Haus- und Zimmertüren. Das Geländer wies ebenfalls feine Schnitzereien auf, sodass Paul sich nicht traute, es zu berühren. Auf dem nächsten Flur blickte er sich zu beiden Seiten um. Er entschied sich für den linken Gang. Im Gegensatz zum Foyer lief er nun auf Holzboden, der seine Tritte dumpf zurückwarf. Die erste Tür verweigerte ihm den Eintritt, die zweite ebenfalls. Auch bei der dritten hatte er kein Glück, doch die vierte Tür stand einen Spalt offen. Sein Herz pumpte vermehrt Blut durch den Körper und brachte die Schläfen zum Pochen.
    Vorsichtig schob er die Tür mit einer Hand auf. In dem mindestens dreißig Quadratmeter großen und vollkommen leeren Raum tanzten Tausende von Staubkörnchen in den Sonnenstrahlen, die das Zimmer durchfluteten. Auf dem Holzboden entdeckte er Spuren, die sich deutlich im Staub abzeichneten und nach links führten. Er folgte ihnen und bemerkte einen senkrecht verlaufenden, etwa zwei Meter hohen Spalt im Mauerwerk. Mit den Fingern griff er hinein. Ohne Mühe zog er so eine weitere Tür auf. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete seine Entdeckung mit gerunzelter Stirn. Der Raum eines Schamanen aus uralten Zeiten hatte sich vor ihm geöffnet, der Geruch von Kerzenwachs und Weihrauch, den er aus der Krankenhauskapelle kannte, kitzelte ihn in der Nase. Er musste niesen.
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