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Chroniken der Jägerin 3

Chroniken der Jägerin 3

Titel: Chroniken der Jägerin 3
Autoren: M Liu
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zu sein, so als wäre er gerannt. Oder als hätte er es jedenfalls
versucht, was ihm aber angesichts des steifen Beins, das er nachzog, nicht leichtgefallen sein dürfte.
    Er war weder Dämon noch Zombie; seine Aura hatte keine schwarze Krone. Dennoch wurde mir kalt, als ich ihn sah, und das nicht nur, weil er so überraschend auftauchte. Sondern eher, weil in meinem Herzen etwas zusammenzuprallen schien, wie eine Kollision zweier Berge. Es war ein vollkommen unmögliches Gefühl. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, aber ich zuckte dennoch zusammen.
    Ebenso wie es mich irritierte, dass der Mann Zee und die Jungs vollständig ignorierte, so als existierten sie überhaupt nicht. Stattdessen wandte er sich zuerst mir zu. Und starrte mich mit einer Intensität an, die mich frösteln ließ und mir den Atem raubte.
    Dann riss er seinen Blick von mir los und sah Jack.
    »O Gott«, sagte er und schwankte. Dann machte er einen Schritt vorwärts, stürzte fast zu Boden und wandte sich von dem alten Mann ab und mir zu. Der Ausdruck in seinen Augen war furchtbar. Er stützte sich so schwer auf seinen Stock, dass ich schon fürchtete, er werde brechen. Sein Gesicht war bleich, blutleer.
    »Maxine.« Der Klang seiner Stimme, rau und brüchig, traf mich bis ins Mark. »Maxine, bist du verletzt?«
    Ich starrte ihn an. Zee hatte sich nicht gerührt, nicht einen Zentimeter, aber Rohw und Aaz krochen wieder auf meinen Schoß und gaben nun verzweifelte Laute von sich. Ich war zu benommen, um sie zu halten, und der Mann schien sich noch immer nicht an ihrer Gegenwart zu stören, obwohl er ihnen doch in ihre kleinen Gesichter blickte.
    »Maxine«, wiederholte er, diesmal lauter. Ich hörte ihn erneut meinen Namen sagen, und das Loch in meinem Herzen und meinem Verstand wurde noch größer, endlos und kalt. Ich
fühlte mich klein und furchtbar verloren. Seit Jahren hatte ich mich nicht so verloren und allein gefühlt.
    Es kostete den Mann einige Mühe, sich zu mir herabzubeugen. Vor Schmerz verzog er das Gesicht, als er sein verletztes Bein dabei abwinkeln musste. Trotzdem ließ er mich keinen Augenblick aus den Augen. Ebenso wenig konnte ich meinen Blick von ihm losreißen. Irgendetwas Schreckliches würde geschehen, falls ich es doch tat: Tod und Blitze oder Erdbeben. Vielleicht würde ich ein für alle Mal unfähig werden zu atmen. Davon war ich felsenfest überzeugt.
    Der Mann versuchte meine Hand zu nehmen. Ich riss sie aber weg. Rohw und Aaz zitterten. Dek und Mal summten zwar wieder, aber ich konnte sie kaum hören, weil das Blut in meinen Ohren so laut rauschte. Hinter dem Mann rieb sich Zee die roten Augen und zog die Klauen direkt über seine Pupillen, als versuche er, sie auszugraben und in seinen Kopf hineinzugreifen. Ich konnte nachempfinden, wie er sich fühlte.
    Ich betrachtete den Mann, die Art, wie er mich ansah, und erzitterte vor einem anderen Horror, der nichts mit meinem toten Großvater zu tun hatte.
    »Tut mir leid«, flüsterte ich, »aber ich weiß nicht, wer Sie sind.«

    Ich kannte sein Gesicht nicht. Kannte diese Wangenknochen nicht, und auch nicht diese zusammengepressten Lippen. Ich kannte diese Augen nicht, die mich da anstarrten, ohne zu blinzeln. Und die von einem seltsamen Licht erfüllt waren, das nicht nur von der Lampe auf dem Tisch neben ihm herzurühren schien.
    Nichts an dem Mann schien mir vertraut zu sein. Ich war
ihm noch nie zuvor begegnet. Hatte noch nie dieselbe Luft geatmet wie er.
    Niemals war ich so scharf angestarrt worden. Oder lag da etwa Sorge in seinem Blick?
    »Maxine«, flüsterte er.
    »Niemand kennt diesen Namen«, sagte ich. Aber Gesichter tauchten auf, und mit ihnen Erinnerungen: Jack, Byron, Mary und noch ein paar andere. Es war so, als stünde ich selbst neben mir und lauschte dem Widerhall eines Films im Fernsehen. Und alles wäre nur eine Fiktion.
    Ich habe Freunde. Hier ist mein Zuhause.
    Zuhause. Was für ein eigentümliches Wort. Aber dann sah ich mich im Raum um, betrachtete die Ziegelwände, die riesigen dunklen Fenster, das Klavier und die Bücher. Zum Teufel, da lag sogar die Lederjacke meiner Mutter schön drapiert über dem Sofa. Und noch einmal überkam mich Gewissheit . Hier war mein Zuhause. Ich hatte Freunde , so unmöglich mir diese Vorstellung jetzt auch vorkam.
    Ich hatte einen Großvater, dessen fleischliche Hülle nun aber tot war, ermordet.
    Und vor mir saß ein Mann, der mich mit einem wissenden Blick anschaute, so wie es noch nie zuvor jemand getan
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