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Chroniken der Jägerin 3

Chroniken der Jägerin 3

Titel: Chroniken der Jägerin 3
Autoren: M Liu
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zu gehen, veränderte nichts. Nichts wurde leichter. Es gab keine wundersame Wiederauferstehung.
    »Zee«, flüsterte ich wieder. »Was ist passiert?«
    Aber er sah mich nicht an, sondern betrachtete stattdessen seine Klauen, als sähe er sie zum ersten Mal: lang, gekrümmt und schwarz wie Pech. Scharf genug, um Haare damit zu spalten. Oder einem Mann die Kehle zu durchtrennen.
    Genau wie mein Messer, das immer noch in Jacks Blut lag.
    Von dort, wo ich saß, konnte ich es sehen. Mein Messer. Das Messer meiner Mutter; es gehörte zu einem eigens angefertigten Set, das mir vermacht worden war. Es hatte kein Heft, sondern bestand nur aus einer Klinge. Gefertigt für Kettenhandschuhe und Hände, deren Haut nichts ritzen oder schneiden konnte. Niemand außer mir benutzte sie.
    Meine Hand spürte noch immer das Gewicht der Klinge. Aber wenn ich mich zu erinnern versuchte, fiel mir nur ein, wie ich das Messer an Zees rundem Bauch geschärft hatte. Als ich auf dem Sofa saß, bei dem Bücherregal; nach der Party, ich war auf einer Party gewesen, mit Kuchen, Gelächter und Dornröschen .
Wir hatten uns alte Folgen von Yogi Bär angesehen. Wir hatten die Jungs gehört, wie sie Tüten mit Eisennägeln gegessen hatten, ganze Knoblauchzehen, Glasscherben, und wie sie das alles mit Motoröl hinuntergespült hatten.
    Ich erinnerte mich wieder. Ich erinnerte mich an jede Empfindung und jedes Geräusch: den grob gewebten Stoff des Sofas unter meiner Handfläche, die Ausdünstungen von Knoblauch und Öl, die in meiner Nase brannten, das Kichern der Jungs, als Yogi Bär versuchte, einen Picknickkorb zu stehlen. Seine Behauptung: Ich bin schlauer als der Durchschnittsbär ging mir wieder und wieder durch den Kopf, zusammen mit anderen Erinnerungen, die sich nicht verflüchtigt hatten: das silberne Blitzen der Klinge, die Klinge an Zees Bauch und wie von der Schneide Funken und Lichter sprühten. So weich wie Licht, so scharf wie Licht.
    Was danach geschah, daran erinnerte ich mich nicht. Wo eine Erinnerung sein sollte, war nur ein Loch. Ich konnte seine Ränder berühren, und es fühlte sich wie die Ränder einer Tasse ohne Boden an, in der sich anstelle von Wasser nur Dunkelheit befand. Kein Jack. Keine Gewalt. Und ich hatte keinen Schimmer, wer meinen Großvater ermordet und mich bewusstlos auf dem Boden liegend zurückgelassen hatte.
    Das hätte niemals passieren dürfen. Die Jungs beschützten mich. Ihr Leben hing genauso davon ab wie das meine. Sie waren seit zehntausend Jahren mit meiner Blutlinie verbunden, verteidigten Mütter und Töchter. Und sie hielten uns am Leben, bis wir an die Reihe kamen zu sterben.
    Aber ich war noch nicht dran. Jetzt noch nicht.
    »Zee«, wiederholte ich.
    »Maxine«, schnarrte er. Sein Ausdruck war erschreckend leer. Leergefegt, zu keinem Gedanken fähig, so als sei ein Teil
des kleinen Dämons vor mir weggesperrt; als sei er ebenso benommen, wie ich es war.
    Ich begriff, dass er sich in einem Schockzustand befand. Wie alle anderen auch. Rohw und Aaz schmiegten sich aneinander und wiegten sich vor und zurück. Dek und Mal summten immer noch den Refrain von Highway to hell in einer für ihre sanften Stimmen ungewöhnlich blechernen Tonlage.
    Schließlich verstummten sie ganz.
    Zee blickte zur Wohnungstür. Rohw und Aaz genauso. Sie verlangsamten ihre Schaukelbewegung, bis sie schließlich in perfekter Reglosigkeit verharrten.
    Meine Haut kribbelte, als ich sie so betrachtete. Das liegt nur an der Morgendämmerung, sagte ich mir. Der Sonnenaufgang stand kurz bevor, ganz gleich, wie dunkel mir die Fenster auch erschienen.
    Ich hörte ein Klicken. Schwere Schritte auf der Treppe.
    Ich versuchte aufzustehen. Meine Beine gehorchten mir nicht. Ich rammte meine Faust in das Sofakissen und zischte nach Zee. Er ignorierte mich. Ich schnippte mit den Fingern nach Rohw und Aaz, aber sie blieben wie angewurzelt auf dem Boden sitzen, mit hochgezogenen Schultern, so als wollten sie sich vor einem Schlag schützen. Sie warfen sich nur besorgte Blicke zu. Die Tränen, die in meiner Kehle brannten, stiegen mir in die Augen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ich brauchte Zeit. Ich musste mit Jack allein sein.
    Die Tür öffnete sich mit einem Schlag. Ein Mann humpelte herein, der sich schwer auf einem hölzernen Stock abstützte. Sein volles Haar war braun und zerzaust, und er trug ein graues Flanellhemd, das über seinen breiten Schultern spannte. Der Blick seiner dunklen Augen wirkte erregt. Er schien außer Atem
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