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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Autoren: Anne Rice
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gerutscht. Es schien ihn nicht zu kümmern. Sein fadenscheiniger schwarzer Wollanzug war vernachlässigt, die Aufschläge und Taschen ungepflegt, grau von Staub. Das schickte sich nicht für ihn. Üppige weiße Seide bauschte sich an seiner Kehle und ließ sein bleiches Gesicht lebendiger und menschlicher aussehen als üblich. Doch die Seide war wie von Dornen zerrissen. Kurz gesagt, mit diesen Kleidern war er wie ein spukender Geist ausgestattet, nicht wie ein Herr. Sie passten zu einem Versager, nicht zu meinem Herrn und Meister von einst.
    Ich glaube, ihm war klar, dass ich verlegen war. Ich richtete meinen Blick auf das Dämmerlicht über mir. Ich wollte hinauf auf den Dachboden, zu den halbherzig versteckten Kleidern des toten Kindes, denn diese Geschichte verwunderte mich. Ich war unverschämt genug, meine Gedanken abschweifen zu lassen, obwohl Marius wartete. Er holte mich mit seinen sanften Worten wieder zurück. »Wenn du Sybelle und Benji brauchst, sie sind bei mir«, sagte er. »Du kannst uns nicht verfehlen. Es ist nicht weit. Wenn du nur willst, kannst du die Appassionata hören.« Er lächelte. »Du hast ihr ein Klavier geschenkt«, sagte ich. Ich sprach von meiner liebsten Sybelle. Ich hatte meinen übernatürlichen Hörsinn vor der Welt verschlossen, und im Augenblick wollte ich meine Ohren nicht öffnen, nicht einmal dem lieblichen Klang ihres Klavierspiels, das ich sowieso schon zu sehr vermisste. Wir hatten das Kloster noch nicht ganz betreten, da hatte Sybelle das Klavier erspäht und mich flüsternd gefragt, ob sie darauf spielen dürfte. Es war nicht in der Kapelle, in der Lestat lag, sondern in einem hinteren, lang gestreckten, leeren Raum. Ich hatte ihr geantwortet, dass es nicht ganz richtig sei, dass es Lestat aufstören könnte. Wir konnten schließlich nicht wissen, was er dachte oder fühlte, ob er sich bedrängt und in seinen Träumen gefangen fühlte. »Wenn du kommst - vielleicht kannst du ja für eine Weile bleiben«, sagte Marius. »Dir wird gefallen, wie sie auf meinem Klavier spielt, und vielleicht können wir dann miteinander reden. Du kannst dich bei uns ausruhen, und wir können das Haus miteinander teilen, solange es dir passt.« Ich gab keine Antwort.
    »Es ist eine Art Neue-Welt-Palast«, sagte er mit einem kleinen, spöttischen Lächeln. »Es ist wirklich nicht weit von hier. Ich habe einen riesigen Garten mit alten Eichen, sogar älter als die hier draußen an der Straße, und alle Fenster rühren wie Türen ins Freie. Du weißt, wie sehr ich das mag. Es ist so römisch. Das Haus öffnet sich dem Frühlingsregen, und der Frühlingsregen hier in New Orleans ist traumhart.«
    »Ja, ich weiß«, flüsterte ich. »Ich glaube, gerade jetzt regnet es, nicht wahr?« Ich lächelte.
    »Nun, ich habe ein wenig davon abgekriegt, ja«, sagte er beinahe heiter. »Du kommst, wenn du Lust hast? Wenn nicht heute, dann morgen …«
    »Oh, ich komme heute Nacht«, antwortete ich. Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, nicht im Mindesten, aber Benji und Sybelle hatten genug von den weißhäutigen Monstern mit den samtigen Stimmen gesehen. Es war Zeit, sich davonzumachen. Einen Moment lang gönnte ich mir die Freude, ihn mit kühnem Blick zu mustern, eine Scheu zu überwinden, die hier in dieser modernen Welt unser Fluch war. In den alten Zeiten in Venedig hatte er mit seinen Kleidern geprunkt, wie es für Männer damals üblich war. Immer waren sie aufs Feinste nach dem letzten Schrei herausgeputzt, ein Spiegel der Mode, wie man so reizend sagte. Wenn er im weichen, purpurnen Abendlicht über den Markusplatz schritt, folgten ihm alle Blicke. Man erkannte ihn an dem stolzen Rot, das er stets trug - ein fließender Umhang, ein herrlich besticktes Wams und darunter eine Tunika aus dem goldenen Seidenstoff, der damals so beliebt war. Er hatte sein Haar wie der junge Lorenzo de’ Medici getragen, als sei er direkt aus dem Bilderrahmen gestiegen.
    »Herr, ich liebe dich«, sagte ich, »aber ich muss jetzt allein sein. Du brauchst mich im Moment nicht, Herr, oder? Warum solltest du? Du hast mich nie wirklich gebraucht.« Ich bereute die Bemerkung auf der Stelle. Die Worte, nicht der Ton, waren unverschämt. Und da die nahe Verwandtschaft unseres Blutes unsere Geister so sehr voneinander schied, fürchtete ich, er könne mich missverstehen. »Mein Cherub, ich brauche dich, aber ich kann warten«, sagte er versöhnlich. »Mir scheint, als wäre es gar nicht so lange her, dass ich die gleichen
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