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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Autoren: Anne Rice
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ist es. Er war mein Bruder, das Symbol für alle Brüder, und darum war Er der HERR, und darum ist Er vom Kern, vom Wesen her einfach nur Liebe. Ihr betrachtet das mit Geringschätzung. Ihr schaut mich misstrauisch an. Aber Ihr erfasst die Vielschichtigkeit nicht, die Seinem Wesen zu Grunde liegt. Das zu fühlen ist vielleicht einfach, aber nicht, es zu sehen. Er war einfach ein anderer Mann, wie ich. Und vielleicht ist Er genau das für viele Millionen Menschen - einfach nur ein Bruder. Wir alle sind jemandes Kinder, und Er war jemandes Sohn, gleichgültig ob Er Gott war. Er war ein Mensch, Er musste leiden, und Er tat es für Dinge, die Er für rein und gut hielt. Und das bedeutet, dass Sein Blut genauso gut hätte mein Blut sein können. Das muss so sein. Und vielleicht liegt darin der Ursprung Seiner Herrlichkeit, zumindest für Leute, die wie ich denken. Du sagst, ich habe keinen Glauben. Ich behaupte, doch. Ich glaube nicht an Titel, nicht an Legenden oder Priesterherrschart. Er hat keine Priesterherrschaft aufgebaut, das eigentlich nicht. Er war der Priester selbst. Ich habe Ihn aus einem einfachen Grund so überhöht gesehen. Er bestand aus Fleisch und Blut. Und Er könnte zu Brot und Wein für die ganze Erde werden. Du verstehst es nicht. Du kannst es nicht verstehen. In deinem Kopf schwimmen zu viele Lügen über Ihn. Ich sah Ihn, noch ehe ich so viel von Ihm hörte. Ich sah Ihn, wenn ich zu Hause die Ikonen anschaute, und wenn ich Ihn malte, lange bevor ich Seinen Namen kannte. Ich kann und will Ihn nicht vergessen. Niemals.« Ich hatte nichts mehr zu sagen.
    Marius und David waren erstaunt, leicht missbilligend zugleich, wahrscheinlich betrachteten sie meine Worte unter dem falschen Blickwinkel. Doch es war eigentlich gleichgültig, was sie fühlten. Im Nachhinein fand ich es sowieso nicht gut, dass sie gefragt hatten und dass ich mich so sehr um eine ehrliche Antwort bemüht hatte. Im Geiste sah ich die alte Ikone, die meine Mutter mir in den Schnee nachgetragen hatte. Inkarnation. Fleischwerdung. Mit ihrer Philosophie konnte man es unmöglich erklären. Ich dachte nach. Vielleicht bestand in meinem Leben der Schrecken ja darin, dass ich es immer verstand, gleichgültig, was ich tat oder wohin ich ging. Inkarnation. Eine Art blutiges Licht.
    Sie sollten mich jetzt in Ruhe lassen. Sybelle wartete schon, das war viel wichtiger, und ich ging hin und nahm sie in die Arme. Stundenlang wanderten wir zusammen umher, Sybelle und Benji und ich, und schließlich kam Pandora dazu, und wir unterhielten uns munter miteinander. Sie war sehr zerstreut, wollte aber nichts dazu sagen. Marius schloss sich uns an und David ebenfalls. Im Kreis saßen wir auf dem Rasen, über uns die Sterne, und ich bemühte mich wegen unserer jungen Küken, mir nichts anmerken zu lassen. Wir sprachen über alles Mögliche, wohin wir gemeinsam reisen würden und welche Wunder Marius und Pandora schon gesehen hatten. Und hin und wieder stritten wir uns über Kleinigkeiten.
    Es war etwa zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Sybelle saß allein im Garten und studierte jede einzelne Blume mit größtem Interesse. Benji hatte gerade herausgefunden, dass er mit übernatürlicher Geschwindigkeit lesen konnte, und durchwühlte die Bibliothek, die wirklich beeindruckend war.
    David hatte sich an Marius’ Schreibtisch niedergelassen. Er korrigierte sorgfältig sein Manuskript und auch gleich die Kopie, die er für mich angefertigt hatte. Marius und ich saßen Schulter an Schulter an einer Eiche. Wir sprachen nicht. Wir ließen unsere Blicke schweifen, vielleicht lauschten wir ja beide dem gleichen Lied der Nacht. Ich wünschte, Sybelle würde wieder spielen. Nie zuvor hatte sie ihr Klavier so lange im Stich gelassen, und ich sehnte mich danach, die Sonate wieder zu hören.
    Marius vernahm den ungewohnten Klang als Erster. Er versteifte sich für einen Augenblick, lehnte sich dann jedoch wieder entspannt zurück.
    »Was war das?«, fragte ich.
    »Nur ein kleines Geräusch. Ich konnte es … ich konnte es nicht identifizieren.« Er lehnte seine Schulter an mich, wie vorher. Fast im gleichen Augenblick schaute David von seiner Arbeit auf. Und dann erschien Pandora und ging argwöhnisch zu einer der hell erleuchteten Türen.
    Nun hörte auch ich den Klang, und Sybelle musste ebenfalls etwas gehört haben, denn sie schaute zum Gartentor hinüber. Selbst Benji ließ sich schließlich dazu herab, das Geräusch wahrzunehmen. Er ließ mitten im Satz das Buch fallen
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