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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Autoren: Anne Rice
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wandte mich ihm zu, unfähig mich zu zügeln. »Wusstest du davon? Wusstest du, dass das passieren sollte?«
    »Nein, wirklich nicht.« Er war ganz ernst.
    »Danke«, sagte ich.
    »Sie brauchen dich, deine Küken«, stellte er fest. »Marius mag sie erschaffen haben, aber sie gehören ganz dir.«
    »Ich weiß, ich bin schon auf dem Weg. Ich tue, was ich tun muss.« Marius streckte die Hand aus und berührte meine Schulter. Plötzlich wurde mir bewusst, dass er kurz davor war, seine Selbstbeherrschung zu verlieren. Als er sprach, bebte seine gefühlvolle Stimme. Er hasste es, so überwallenden Gefühlen ausgesetzt zu sein, und mein Kummer bedrückte ihn. Das war mir nur zu klar. Aber es verschaffte mir keine Befriedigung.
    »Du verachtest mich jetzt wahrscheinlich, und vielleicht hast du sogar Recht damit. Dass du weinen würdest, wusste ich, aber ich habe dich völlig falsch eingeschätzt. Es gibt etwas in dir, das ich nie richtig erkannt habe.«
    »Und was ist das, Herr?«, fragte ich mit betonter Schärfe. »Deine Liebe zu ihnen war selbstlos«, flüsterte er. »Bei all ihrer Merkwürdigkeit, ihrer munteren Bosheit, waren sie doch durch dich nicht gefährdet. Du hast sie, glaube ich, mit mehr Achtung geliebt als ich … dich je geliebt habe.«
    Er wirkte sehr verwundert.
    Ich konnte nur nicken. Ich war mir nicht sicher, ob er Recht hafte. Ich hatte nie in Erfahrung bringen müssen, ob ich sie wirklich brauchte, aber das wollte ich ihm nicht auf die Nase binden.
    »Armand«, sagte er, »du weißt, ihr könnt hier bleiben, solange ihr wollt.«
    »Fein, vielleicht tu ich’s. Es gefällt ihnen hier, und ich bin erschöpft. Also vielen Dank.«
    »Aber eins noch«, fuhr er fort, »und das meine ich ehrlich.«
    »Was, Herr?« Ich war ganz froh, dass David hier war, denn seine Anwesenheit übte eine dämpfende Wirkung auf meine Tränen aus. »Ich habe selbst keine Antwort dafür, und ich frage dich ganz demütig: Als du das Schweißtuch sahst, was hast du da wirklich gesehen? Ach, ich meine nicht, ob es Christus war, ob es Gott war, oder ob es ein Wunder war. Ich meine Folgendes: Auf dem Tuch war das blutgetränkte Antlitz eines Wesens zu sehen, durch das eine Religion geboren wurde, die mehr Kriege und Grausamkeiten verschuldet hat als jeder andere Glaube. Sei mir nicht böse, bitte, erklär es mir einfach nur. Was hast du gesehen? Hat es dich nur stark an die Ikonen erinnert, die du einst gemalt hattest? Oder war es wirklich ein Wesen, das Liebe ausstrahlte? Bitte sag es mir. Ich möchte wirklich gern wissen, ob es Liebe war.«
    »Du fragst die alte, simple Frage, und meiner Ansicht nach hast du wirklich keine Ahnung. Du fragst dich, wie ich in Ihm den HERRN sehen konnte, wenn man wahrnimmt, wie die Welt ist, und wenn man das Neue Testament kennt, das in Seinem Namen geschrieben wurde. Du fragst dich, wie ich das alles glauben konnte, weil du nicht daran glaubst, ist es so?«
    Er nickte.
    »Ja, das frage ich mich wirklich. Denn ich kenne dich. Und ich weiß, dass echter Glaube etwas ist, was du schlicht nicht besitzt.« Ich stutzte. Aber ich wusste sofort, dass er Recht hatte. Ich lächelte. Ich fühlte plötzlich eine Art tragischer, erregender Glückseligkeit. »Ja, ich verstehe, was du meinst«, sagte ich. »Und hier ist meine Antwort. Ich sah Christus. Eine Art blutiges Licht. Eine Person, ein Mensch, eine Anwesenheit, von der mein Gefühl mir sagte, dass ich sie kenne. Und Er war nicht Gott, der Allmächtige, Er war nicht der Schöpfer des Universums und der Erde, Er war auch nicht der Heiland oder der Erlöser, Er war nicht Teil der Heiligen Dreieinigkeit, und Er war nicht der Theologe, der vom Heiligen Berg steigt. All das nicht. Nicht für mich.«
    »Aber wer war er dann, Armand?«, fragte David. »Hier in deiner Geschichte wimmelt es von Wundern und Leiden, und trotzdem weiß ich es nicht. Was bedeutete der Begriff HERR, wenn du das Wort benutztest?«
    »HERR«, wiederholte ich. »Es bedeutet nicht das, was du meinst. Man spricht es viel zu vertraulich, mit viel zu viel Wärme. Aber eigentlich ist es wie ein geheimer, geheiligter Name. HERR.« Ich hielt einen Moment lang inne und sprach dann weiter:
    »Er ist der HERR, ja, aber nur, weil Er das Symbol für etwas viel Greifbareres, etwas viel Bedeutungsvolleres ist, als ein Anführer, ein König, ein Herr je sein kann.« Wieder zögerte ich. Wenn ich schon einmal so aufrichtig war, wollte ich auch die richtigen Worte finden. »Er war … mein Bruder. - Ja. Das
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