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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Autoren: Anne Rice
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An einen der Stämme lehnte ich mein müdes Haupt. Die Zweige hüllten mich ein, wie ein Schleier. In ihrem Schatten fühlte ich mich sicher und beschützt. Mein Herz war still, aber es war gebrochen und mein Geist erschüttert. Ich brauchte nur durch die Fenster auf meine beiden Vampir-Engel zu schauen und mir kamen abermals die Tränen.
    Lange Zeit stand Marius drüben in der offenen Tür. Er blickte mich nicht an. Und als ich zu Pandora hinüberschaute, sah ich, dass sie sich in einem der Lehnstühle zusammenkauerte, als müsse sie sich vor einem fürchterlichen Schmerz schützen, aber vielleicht war es auch nur, weil wir gestritten hatten.
    Schließlich raffte Marius sich auf und kam zu mir. Ich glaube, dazu brauchte er alle Willenskraft. Er wirkte plötzlich ein wenig zornig und sogar stolz.
    Ich gab einen Dreck darum.
    Er stand schweigend vor mir und schien nur gekommen zu sein, um sich meine Vorwürfe anzuhören.
    »Warum hast du ihnen nicht einfach ihr Leben gelassen?«, fragte ich. »Ausgerechnet du - was auch immer du für mich und meine Dummheiten übrig hattest -, warum hast du nicht wenigstens ihnen das Leben erhalten, was die Natur ihnen schenkte? Warum hast du dich eingemischt?« Er antwortete nicht, aber ich nahm keine Rücksicht darauf. Mit sanfterer Stimme fuhr ich fort: »In meinen schlimmsten Jahren haben mich immer nur deine Worte aufrecht gehalten. Nein, nicht in der Zeit, als mich verdrehte Glaubensbekenntnisse und morbide Illusionen gefangen hielten. Ich meine später, nach Lestats Herausforderung, als ich las, was Lestat über dich schrieb. Du, mein Meister, hast mir diese wunderbare, leuchtende Welt ringsum e röffnet, die ich mir so in dem Land meiner Geburt nicht hätte erträumen können.«
    Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Ich holte einmal kurz Luft und lauschte der Musik, die mich mit ihrer neuen Ausdruckskraft fast zum Weinen brachte. Aber kein Weinen jetzt, ich hatte noch mehr zu sagen.
    »Herr, du hast gesagt, dass in unserer neuen Welt die alten, von Aberglauben und Gewalt genährten Religionen dahinsterben. Du hast gesagt, dass wir in einer Zeit leben, in der das Böse keinen Platz mehr hat. Erinnere dich, du hast Lestat gesagt, dass kein Glaube, kein Gesetz unsere Existenz rechtfertigen könne, da die Menschen jetzt endlich wissen, was wirklich böse ist. Und wirklich böse sind nur Hunger, Unwissenheit und Krieg. Das hast du gesagt, Herr, eleganter als i ch es ausdrücken könnte, aber deine Argumente beruhten auf der Vernunft, du hast die Heiligkeit und Herrlichkeit der Natur und der Menschenwelt gepredigt. Du hast gesagt, dass die menschliche Seele reicher und tiefer geworden sei. Du hast gesagt, dass, nach Jahrhunderten voller blutiger Religionen, das Zeitalter der Aufklärung angebrochen sei, in dem Vernunft und Ethik und echte Anteilnahme herrschen.«
    »Hör auf, Armand«, sagte er sanft, aber streng. »Ich erinnere mich sehr wohl an diese Worte, aber ich glaube nicht mehr daran.« Ich war verblüfft, dass er so einfach allem abschwor. Das ging über meine Vorstellungskraft, und doch kannte ich ihn gut genug, um zu sehen, dass er es genauso meinte. Er sah mich unverwandt an. »Ich habe daran geglaubt, ja. Aber es war kein Glaube, der auf Vernunft oder der Beobachtung des menschlichen Verhaltens be ruhte. Niemals. Und als ich das erkannte, als ich sah, was es wirklich war ein wildes, verzweifeltes irrationales Vorurteil, da wurde mir plötzlich alles klar.
    Armand, ich musste damals an diese Worte glauben, ich konnte nicht anders. Sie waren das Glaubensbekenntnis des vernunftbetonten, gebildeten Römers, des Atheisten und Logikers, der das Auge von den grausamen Realität abwandte, weil er wahnsinnig geworden wäre, wenn er sich die Jämmerlichkeit der Menschen eingestanden hätte. Ich kenne die Geschichtsbücher, ich lese sie wie andere die Bibel, ich werde erst zufrieden sein, wenn ich alle Fakten über alle Kulturen ausgegraben habe. Aber mein Optimismus war ein Fehler. Ich war ein Ignorant, so wie die anderen, die ich dessen beschuldigt habe, und dabei weigerte ich mich, die Schrecken zu sehen, die uns umgeben. In diesem Zeitalter der Vernunft sind sie größer denn je. Wenn du das bestreiten möchtest, dann blicke zurück, Kind. Denk an das russische Reich und die Mongolen, schau dir die Geschichte Europas an und denk an den Krieg im Heiligen Land, ja selbst in England und in jedem asiatischen Winkel. Warum habe ich mich so lange selbst betrogen? Und
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