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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Autoren: Anne Rice
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zerbrechliche Legende, daran konnte ich mich möglicherweise schmiegen. Wie ermordet man Kinder in Waisenhäusern, wo es nur Nonnen gibt? Ich hatte mir Frauen nie so grausam vorgestellt. Vertrocknet, fantasielos vielleicht, aber nicht aggressiv bis hin zum Mord, wie wir es sind. Ich drehte mich um und um. An einer Wand waren hölzerne Spinde aufgereiht, einer davon stand offen. Und darin lagen, unachtsam hingeworfen, kleine, braune Oxfordslipper - so nennt man diese Schuhe - mit schwarzen Schleifen; und nun sah ich auch das aufgebrochene, unregelmäßige Loch weiter oben in der Mauer, aus dem man die Kleider gezerrt hatte. Da lagen sie, angemodert und zerknüllt, die Kleider eines Mädchens. Eine Reglosigkeit kam über mich, als wäre der Staub dieses Ortes dünnes Eis, das sich von den höchsten Spitzen hochmütiger, ungeheuer selbstsüchtiger Berge niedersenkte und alles Lebendige einfröre, um auf ewig jedes atmende, fühlende, träumende Leben einzuschließen und anzuhalten. David verlegte sich auf Poesie. »Nicht fürchte mehr der Sonne Glut«, flüsterte er, »noch des grausen Winters Wut. Nicht fürchte mehr …« Ein entzücktes Seufzen entschlüpfte mir. Ich kannte diese Verse. Ich liebte sie. Wie vor dem Altar knickste ich, als ich die Kleider berührte. »Es war noch klein, dieses Mädchen, nicht älter als fünf, und es ist gar nicht hier gestorben. Niemand hat es umgebracht. So etwas Ungewöhnliches war ihr nicht bestimmt.«
    »Wie deine Worte doch deine Gedanken Lügen strafen«, sagte er. »Stimmt nicht, ich denke an zwei Dinge gleichzeitig. Man muss zwischen Mord und Mord unterscheiden. Ich wurde ermordet. Oh, nicht von Marius, wie du vielleicht denkst, aber von anderen.«
    Ich weiß, meine Stimme war trügerisch sanft, denn hier war pures Drama nicht angebracht.
    »Erinnerungen hängen an mir wie ein alter Pelz. Ich hebe den Arm, und das Tuch der Erinnerung bedeckt ihn. Ich schaue um mich und sehe vergangene Zeiten. Aber du weißt, was mir am meisten Furcht einjagt - dass der Zustand, in dem ich bin, sich, wie schon so oft zuvor, nicht als Aufbruch erweisen wird, sondern sich über die Jahrhunderte dehnt.«
    »Wovor fürchtest du dich wirklich? Was wolltest du von Lestat, als du herkamst?«
    »David, ich wollte ihn sehen. Ich wollte herausfinden, was mit ihm los ist und warum er so regungslos daliegt. Ich wollte -«Ich war nicht gewillt, mehr zu sagen. Die glänzenden Fingernägel ließen seine Hände ungewöhnlich wie ein Kunstwerk erscheinen und die Berührung damit wie ein Streicheln, umwerfend schön. Er hob ein zerschlissenes Kleidchen auf, vergraut war es, mit Streifen aus schlichter Spitze besetzt. Jedes fleischliche Wesen kann eine Schwindel erregende Schönheit ausstrahlen, wenn man nur lange genug hinschaut, und Davids Schönheit sprang erbarmungslos ins Auge. »Nur Kleider.« Geblümte Baumwolle, ein Stückchen Samt, mit einem Puffärmel, nicht größer als ein Apfel, genau richtig für eine Epoche, in der die bloßen Arme gezeigt wurden, gleich zu welcher Tageszeit. »Man spürt nichts davon, dass ihm Gewalt widerfahren wäre«, sagte er, als täte es ihm Leid. »Nur ein armes Kind, meinst du nicht auch? Und nicht nur traurigen Gemütes sondern auch in traurigen Verhältnissen.«
    »Und warum hat man die Sachen dann hinter Mörtel verborgen, das sage mir! Welche Sünde haben diese winzigen Kleidchen begangen?« Ich seufzte. »Gütiger Himmel, David Talbot, warum gönnen wir diesem kleinen Mädchen nicht seine romantische Geschichte, seinen Ruhm? Du machst mich wütend. Du sagst, du kannst Geister sehen. Findest du sie angenehm? Du magst es, mit ihnen zu reden. Ich könnte dir von einem Geist erzählen -«
    »Wann wirst du es mir erzählen? Hör zu, erkennst du nicht, welche Wunder ein Buch wirken kann?« Er stand auf und klopfte sich mit der rechten Hand den Staub vom Knie. Mit der Linken hielt er immer noch das Kleidchen umfasst. Eine hoch gewachsene Gestalt mit einem zerdrückten Kinderkleid in der Hand der Anblick dieser Kombination löste leichte Beunruhigung i n mir aus. »Weißt du, wenn man so darüber nachdenkt«, sagte ich, während ich mich abwandte, damit ich das Kleid in seiner Hand nicht sehen musste, »es gibt bei Gott keinen Grund für die Unterscheidung in kleine Mädchen und kleine Jungen. Denk nur an den niedlichen Nachwuchs der restlichen Säugetiere! Welpen oder Kätzchen oder Fohlen, die gelten als geschlechtslos. Das ist überhaupt keine Frage. Solch ein unreifes,
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