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Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Titel: Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Autoren: Anne Rice
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schlanke, weiße Gestalt verriet nichts von der in ihr lauernden, grenzenlosen Kraft. Und sie litten, alle drei.
    Oh, ich witterte ihr Leiden.
    »Ich habe etwas für dich«, sagte sie und streckte mir die Hand entgegen. »Wenn du es liest, wirst du schreien und weinen, und wir werden dich hier festhalten, still und behütet, bis du dich beruhigt hast. Mehr nicht. Hier in diesem Haus, unter meinem Schutz. Du wirst mein Gefangener sein.«
    »Was? Was ist das?« wollte ich von ihr wissen.
    Sie streckte mir ein zerknittertes Pergamentpäckchen entgegen.
    »Was zur Hölle ist das!« rief ich. »Wer hat dir das gegeben?« Ich mochte es nicht berühren.
    Mit ihrer Kraft, der ich mich unmöglich widersetzen konnte, ergriff sie mein linkes Handgelenk, so daß ich den Stoffbeutel mit den Büchern gezwungenermaßen fallen lassen mußte, und drückte mir das kleine, unordentliche Päckchen in die Hand.
    »Man hat es mir ausdrücklich für dich gegeben.«
    »Wer gab es dir?« drängte ich.
    »Der, der die Nachricht darin geschrieben hat. Lies sie!«
    »Was zur Hölle!« fluchte ich. Mit den Fingern der Rechten riß ich das dicke, knittrige Papier auf.
    Mein Augapfel. Mein Auge glänzte auf dem Geschriebenen. Dieses kleine Päckchen enthielt mein Auge, meinen Augapfel, in einen Brief eingeschlagen. Mein blaues Auge, ganz und lebendig.
    Ich rang nach Atem, als ich es nahm und zu meinem Gesicht führte, hineindrückte in die wunde, schmerzende Höhle. Ich spürte seine Nervenfasern tief ins Hirn eindringen, spürte, wie sie sich mit dem Sehnerv dort verknüpften. Die Welt flackerte und flammte in meinem wiedergewonnenen vollständigen Gesichtsfeld auf. Sie stand und starrte mich an.
    »So, schreien werde ich?« rief ich. »Schreien? Warum sollte ich? Was denn, glaubst du, sehe ich nun? Ich sehe nichts anderes als vorher!« Ich schaute von rechts nach links, ohne diesen erschreckenden schwarzen Fleck, der da vorhin noch gewesen war. Die Welt war wieder vollständig, die farbigen Fenster und das schweigende Trio, das mich beobachtete. »Oh, danke, Gott!« flüsterte ich. Doch was meinte ich damit? War das ein Dankgebet oder nur ein Stoßseufzer?
    »Lies«, sagte sie, »lies, was auf dem Pergament steht.«
    Eine archaische Handschrift. Was war das? Ein Trugbild! Worte einer Sprache, die keine Sprache war, dennoch so klar artikuliert, daß ich sie aus den spinnenbeinigen Krakeln erkennen konnte, geschrieben mit Blut und Tinte und Ruß:
     
    Meinem Prinzen.
    Ich statte dir Dank ab
    für eine Arbeit,
    die du perfekt erledigtest.
    In Liebe,
    Memnoch, der Teufel
     
    Ich brüllte laut auf.
    »Lügen, Lügen, Lügen!« Die Ketten rasselten. »Welches Metall, glaubt ihr, könnte mich halten, niederwerfen! Seid verdammt. Lügen! Du hast ihn gar nicht gesehen. Das hat er dir nie gegeben!«
    David, Louis, Maharets Kraft, unvorstellbare Kraft, gewachsen seit unendlich lang zurückliegenden Zeiten, Zeiten, bevor man noch die ersten Zeichen in Tontafeln ritzte - diese Kraft umgab mich, schloß mich ein. Ihre Kraft gab den Ausschlag, weniger die der beiden anderen; ich war wie ein Kind für sie, das nach ihr schlug und sie mit Verwünschungen überschüttete Mein Geheul hallte von den Wänden wider, als sie mich durch die Dunkelheit schleppten in einen Raum, den sie für mich vorgesehen hatten. Vermauerte Fenster, ohne Licht, ein Kerker, und die Ketten spulten sich um mich auf, als ich dagegen anwütete.
    »Das sind Lügen, Lügen, nichts als Lügen! Ich glaube nicht dran! Wenn ich schon hereingelegt wurde, dann von Gott!« Ich brüllte unaufhörlich. »Er hat mir das angetan. Es ist nicht wahr, es sei denn. Er war es, Gott, der Menschensohn. Nicht Memnoch. Nein, niemals, niemals. Lügen!«
    Bis ich endlich am Boden lag, machtlos. Mir war alles egal. Es lag ein gewisser Trost darin, angekettet zu sein, nicht in der Lage zu sein, die Wände mit meinen Fäusten zu zertrümmern oder mir den Kopf an der Wand einzuschlagen oder Schlimmeres …
    »Lügen, Lügen, ein riesiges Lügengebäude! Das war alles, was ich gesehen habe! Wieder mal ein riesiger Circus maximus aus Lügen!«
    »Nicht alles ist gelogen«, sagte Maharet. »Nicht alles. Das ist das ewige, uralte Dilemma.«
    Ich wurde still. Ich spürte, wie mein linkes Auge sich langsam immer tiefer in meinem Hirn verwurzelte. Das hatte ich nun wieder. Mein Auge. Und wenn ich an Memnochs Gesichtsausdruck dachte, dieses von Entsetzen gezeichnete Gesicht, als er auf das Auge schaute, und an die Geschichte
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