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Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir

Titel: Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
Autoren: Anne Rice
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weinte, aus Furcht oder Hunger der beidem. Als ich es in die Arme nahm und streichelte und wiegte, beruhigte es sich. Lestat sprach nun ganz leise mit schnellen, nur halbartikulierten Worten, die ich nicht verstehen konnte, die Tränen rannen in Strömen über seine Wangen, und der junge Vampir stand mit angewidertem Blick am offenen Fenster, so als wolle er sich jeden Augenblick aus dem Staub machen. ›Sie sind also Louis‹, sagte er, was Lestats unbeschreibliche Erregung noch zu steigern schien, der sich nun die Tränen mit dem Saum seines Bademantels vom Gesicht wischte.
    Eine Fliege ließ sich auf der Stirn des Babys nieder, und ich hielt unwillkürlich den Atem an, als ich sie zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschte und auf den Fußboden warf. Das Kind hatte aufgehört zu weinen und sah mich nun mit außergewöhnlich blauen Augen an, und ein Lächeln umspielte seine Lippen, ein Lächeln, das langsam aufflackerte wie eine Flamme. Während ich das Kind mit einem sonderbaren Gefühl von Traurigkeit in den Armen hielt, wurde mir bewußt, daß ich so etwas Jungem, so etwas Unschuldigem nie den Tod gebracht hatte. Ich wiegte das Kind sanft hin und her, zog mir den Stuhl des jungen Vampirs an den Kamin und ließ mich nieder.
    ›Du brauchst nicht zu sprechen, es ist schon gut‹, sagte ich zu Lestat, der sich dankbar in seinen Sessel zurückfallen ließ.
    ›Aber ich bin so glücklich, dich zu sehen‹, stammelte er durch seine Tränen hindurch. ›Ich habe davon geträumt, daß du kommen… daß du kommen würdest.‹ Er zog eine Grimasse, als hätte er ein unnennbares Weh, und wieder erschien für einen Augenblick das feine Liniennetz seiner Narben. ›Ich habe nicht…‹, begann er wieder, schloß die Augen und schüttelte den Kopf, ›ich wollte nicht, daß sie es tun… ich meine, daß Santiago… er hat mir nicht gesagt, was sie vorhatten.‹
    Ich sagte: ›Das ist gewesen und vergangen.‹
    Er nickte lebhaft. ›Ja, ja. Vergangen. Sie hätte niemals… ach, Louis, du weißt…‹ Wieder schüttelte er den Kopf. ›Sie hätte niemals eine von uns werden sollen.‹ Und er schlug sich mit der Faust auf die eingesunkene Brust.
    Claudia. Mir war, als habe sie nie existiert. Als sei sie ein widersinniger, phantastischer Traum gewesen, zu kostbar und zu persönlich, ihn jemandem anzuvertrauen. Und zu lange vorbei. Ich sah Lestat an und versuchte zu denken: wir drei, wir drei zusammen. ›Hab keine Angst vor min, sagte ich, als spräche ich zu mir selber. ›Ich tue dir nichts.‹
    ›Du bist zu mir zurückgekommene wisperte er mit seiner dünnen Stimme. ›Du bist heimgekehlt, zu mir, nicht wahr?‹ Er sah mich fragend, ängstlich an.
    Ich schüttelte den Kopf. ›Nein, Lestat.‹
    Er machte eine Bewegung, um zu protestieren; doch er war zu schwach dazu; er ließ die Hände in den Schoß sinken, und dann schlug er sie verzweifelt vors Gesicht. Der andere Vampir, der mich kalt gemustert hatte, fragte: ›Sind Sie… sind Sie gekommen, um zu bleiben?‹
    ›Natürlich nicht‹, antwortete ich. Und er grinste zynisch, wie wenn er sagen wollte: Ich habe es nicht anders erwartet, es bleibt alles an mir hängen, und ging auf die Veranda hinaus.
    ›Ich wollte dich nur einmal sehen, Lestat‹, sagte ich. Doch er schien mich nicht zu hören; er stand auf und trat auf mich zu und hielt mir die Hand hin, und wider Willen nahm ich sie. Er beugte sich nieder, preßte seinen Kopf an meine Brust und drückte meine Hand so fest, daß es weh tat.
    ›Ich kann es nicht ertragene stöhnte er unter Tränen. ›Ich kann es nicht ertragen. Hilf mir, Louis, bleibe bei mir.‹
    ›Aber warum hast du Angst?‹ fragte ich. Und als ich auf ihn niedersah, hatte ich eine Vision von ihm aus längst vergangenen Tagen, von dem hochgewachsenen, stattlichen Kavalier in dem wehenden schwarzen Umhang, der mit voller, makelloser Stimme eine Arie aus der Oper sang, von der wir gerade kamen, mit dem Stock auf dem Pflaster den Takt schlug und zugleich lächelnd mit einer jungen Frau flirtete, die gerade vorüberging, so daß eine Sekunde lang, als seine Augen die ihren trafen, alles Böse ausgelöscht schien in einem Anflug von schierer Lebenslust.
    Zahlte er jetzt den Preis dafür? Ich dachte nach, was ich ihm sagen, wie ich ihn daran erinnern könnte, daß er unsterblich war, daß nichts und niemand außer ihm selber ihn zu dieser schmählichen Abdankung, dieser traurigen Resignation zwingen könne. Aber ich sagte nichts dergleichen. Dann legte
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