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Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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miteinander.«
    »Heißt das, er ist wahnsinnig?«
    »Möglich, aber dann ist es eine Art Wahnsinn, die mir unbekannt ist.«
    »Mir nicht«, warf Torak ein und erzählte von seiner Begegnung mit dem Jäger vom Eberclan.
    Die Miene der Schamanin wurde immer finsterer. Sie war viele Winter älter als die anderen und vom Alter gezeichnet. Ihr kahler Schädel war gelblich wie vergilbter Knochen, ihre Züge so scharf, dass sie eher einem Raben glich als einer Frau. »Ich hab’s aus den Knochen gelesen«, krächzte sie. »Eine Botschaft: ›Sie kommt.‹«
    »Ich habe auch etwas zu berichten«, meldete sich Renn zu Wort. »Vorhin bin ich einem Trupp Jäger vom Weidenclan begegnet. Der eine war krank. Er hatte Ausschlag. Er war wahnsinnig und hatte schreckliche Angst.« Ihre Augen waren schwarz wie Moortümpel, als sie Saeunn eindringlich anblickte. »Der Weidenschamane lässt dir ausrichten, er hätte ebenfalls aus den Knochen gelesen, und sie hätten ihm drei Tage hintereinander immer wieder das Gleiche erzählt: ›Sie kommt.‹«
    Die Umstehenden machten das Zeichen gegen das Böse. Manche fassten nach ihrem Clanabzeichen, das schwarz glänzende Federbüschel, das an ihre Wämser genäht war.
    Ein tüchtiger junger Jäger namens Ethan trat vor. »Bera ist drüben auf dem Hügel geblieben, nach den Fallen schauen«, meldete er bestürzt. »Sie hatte Pusteln auf der Hand, genau wie Oslak. Ich hätte sie wohl lieber nicht allein lassen sollen?«
    Fin-Kedinn schüttelte den Kopf. Er strich sich mit undurchdringlicher Miene den roten Bart, aber Torak spürte, dass er angestrengt nachdachte.
    Rasch erteilte er seine Befehle. »Thull, Ethan! Ihr beide nehmt noch ein paar Männer mit und baut im Lindenwäldchen eine Hütte, so weit weg, dass man sie von hier aus nicht sieht. Dort bringt ihr Oslak hin und bewacht ihn. Vedna, du musst dich von ihm fern halten. Tut mir Leid, aber es geht nicht anders.« Mit funkelnden blauen Augen wechselte er einen Blick mit Saeunn. »Eine Heilzeremonie. Um Mittnacht. Finde heraus, wo die Krankheit herkommt.«

Kapitel 4

    DIE GEHILFIN der Schamanin nahm eine Kelle aus Auerochsenhorn, füllte sie mit glühender Asche und kippte sich die qualmende Glut in die bloße Hand.
    Torak schnappte nach Luft.
    Die Gehilfin zuckte nicht mit der Wimper.
    Zu ihren Füßen wand sich Oslak am Boden, aber die Fesseln hielten seinem Sträuben stand. Für den abschließenden Zauber hatte man ihn auf eine Trage aus Pferdefell gebunden. Bera hatte die ganze Zeremonie schon hinter sich und war in die Krankenhütte zurückgebracht worden. Sie schrie und heulte und war noch kränker als zuvor.
    Die Rabenschamanin und ihre Gehilfin hatten nichts unversucht gelassen. Die Alte hatte den beiden Kranken die Zunge mit Erdblut beschmiert, um den Wahnsinn herauszuziehen. Sie hatte ihnen Angelhaken an die Finger gebunden und sich in Trance versetzt, um die entwichenen Seelen wieder einzufangen. Sie hatte die beiden in den dicken Qualm eines Wacholderfeuers gesetzt, um die krank machenden Würmer zu vertreiben. Nichts hatte geholfen.
    Als sie nun den allerletzten Zauber vorbereitete, verstummten die Zuschauer. Der Feuerschein flackerte über ihre bangen Gesichter.
    Es war eine warme, klare Nacht. Der Mond stand hoch und fast voll über dem Wald. Der Wind hatte sich gelegt, doch die Luft war voller Geräusche: Die Räuchergestelle knarrten, in der Schlucht krächzten die Raben, die Stromschnellen tosten.
    Die Schamanin trat an die Trage und reckte die hageren Arme zum Mond. Mit einer Hand umklammerte sie ihr Amulett, in der anderen hielt sie einen Pfeil mit roter Feuersteinspitze.
    Torak schielte zu der Gehilfin hinüber, doch deren Gesicht war eine ausdruckslose Lehmmaske. Sie sah überhaupt nicht mehr wie Renn aus.
    »Reinige seine Namensseele, o Feuer« , sang Saeunn und umschritt die Trage.
    Renn hockte sich neben Oslak und ließ heiße Asche auf seine Füße rieseln. Stöhnend biss er sich auf die Lippen, bis sie bluteten.
    »Reinige seine Namensseele, o Feuer.«
    Renn schüttete dem Kranken Asche auf die Brust.
    »Reinige seine Namensseele, o Feuer.«
    Renn beschmierte Oslak die Stirn mit Asche.
    »Verzehre die Krankheit… «
    Oslak stieß ein Wutgeheul aus und bespie die Schamanin mit blutigem Speichel.
    Ein bestürztes Raunen ging durch die Sippe. Der Zauber wollte nicht wirken.
    Torak hielt den Atem an. Der Wald hinter ihm wurde ganz still. Vor lauter Neugier, wie die Zeremonie ausgehen mochte, raschelten nicht einmal
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