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Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)

Titel: Chronik der dunklen Wälder - Seelenwanderer: Band 2 (German Edition)
Autoren: Michelle Paver
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mehr die Erlen mit den Zweigen.
    Jetzt zog Saeunn mit dem Pfeil eine Spirale auf Oslaks Brust. »Komm heraus, o Krankheit« , sang sie heiser. »Aus dem Mark in die Knochen, aus den Knochen ins Fleisch…«
    Torak krümmte sich und hielt sich den Magen. Beim Gesang der Schamanin verspürte er plötzlich einen stechenden Schmerz im Leib.
    Die Alte zog bedächtig ihre Spirale über Oslaks Herzgegend. »Vom Fleisch in die Haut, von der Haut in den Pfeil…«
    Noch ein schmerzhafter Stich, als bohrten sich ihm ihre Worte ins Gedärm. Werde ich auch krank?, schoss es ihm durch den Kopf. Fängt es so an?
    Eine schwere Hand legte sich ihm auf die Schulter. Fin-Kedinn war neben ihn getreten. Auch er beobachtete die Schamanin.
    »Vom Pfeil…« , Saeunn erhob sich, »ins Feuer!« Sie warf den Pfeil in die Glut.
    Grüne Flammen loderten auf.
    Oslak schrie auf.
    Die Zuschauer sogen scharf die Luft durch die Zähne.
    Saeunn ließ die Arme sinken.
    Der Zauber war missglückt.
    Torak hielt sich den Bauch und kämpfte gegen den Schwindel an.
    Auf einmal flog ein schwarzer Schatten in den Lichtkreis des Feuers. Es war der Clanhüter und er flatterte geradewegs auf Torak los. Der Junge wollte sich ducken, aber Fin-Kedinn hielt ihn fest. Dicht vor Torak machte der Rabe kehrt. Er war erzürnt, jemand wollte seiner Sippe Böses. Torak hatte keine Ahnung, warum er ausgerechnet zu ihm geflogen war.
    Er suchte Renns Blick, doch sie kniete neben Oslak und betrachtete die Spuren, die der sich Wehrende in den Staub gescharrt hatte.
    Torak entwand sich dem Griff des Anführers und lief davon, an den Wachen vorbei, aus dem Lager in den Wald.
    Auf einer mondbeschienenen Lichtung brach er unter einer Esche zusammen. Wieder wurde ihm schwindlig. Er krümmte sich und übergab sich.

    Ein Eulenschrei.
    Torak hob den Kopf und starrte zu den Sternen empor, deren kalter Schein durch das Laubdach der Esche fiel. Das Gesicht in den Händen vergraben, ließ er sich auf den Boden sinken.
    Schwindlig war ihm nicht mehr, aber er zitterte immer noch. Er hatte Angst und fühlte sich allein. Nicht einmal Renn konnte er sich anvertrauen. Sie war zwar seine Freundin, aber sie war auch die Gehilfin der Schamanin. Sie durfte nichts davon erfahren. Niemand durfte etwas davon erfahren. Wenn er tatsächlich krank war, wollte er lieber einsam und allein im Wald sterben, als auf eine Trage gefesselt.
    Ihm kam ein schrecklicher Verdacht. »Jemand isst meine Seelen auf« , hatte Oslak gebrüllt. Hatte er irre geredet oder war an seiner Behauptung etwas Wahres?
    Torak schloss die Augen und lauschte, um sich abzulenken, den nächtlichen Geräuschen um sich herum. Eine Amsel schmetterte ihr Lied, im Unterholz schrien hungrige Rotkehlenjungen.
    Von klein auf war Torak mit seinem Vater durch Hügel und Täler geschweift und hatte sich von allen Sippen fern gehalten. Seine Gefährten waren die Geschöpfe des Waldes gewesen. Andere Menschen hatte er nie vermisst. Bei den Raben zu leben, fiel ihm schwer. So viele Menschen, man war nur selten allein. Er gehörte nicht dazu. Sie lebten so ganz anders als seinerzeit Fa und er.
    Außerdem sehnte er sich verzweifelt nach Wolf.
    Er hatte den Welpen nach Fas Tod gefunden. Zwei Monde waren sie gemeinsam auf die Jagd gegangen und hatten schrecklichen Gefahren getrotzt. Manchmal hatte sich Wolf wie ein ganz gewöhnlicher Welpe benommen, war Torak andauernd vor die Füße gelaufen und hatte überall seine feuchte Nase hineingesteckt. Manchmal jedoch war er ihr Anführer gewesen, und sein rätselhafter bernsteinfarbener Blick besagte, dass er genau wusste, was er tat. Doch vor allem war er Toraks Rudelgefährte. Sein Verlust schmerzte den Jungen sehr.
    Er hatte schon oft erwogen, sich auf die Suche nach ihm zu machen, aber im Grunde seines Herzens war ihm klar, dass er den Berg nicht wieder finden würde. Wie es Renn in ihrer nüchternen Art ausdrückte: »Der letzte Winter war etwas Besonderes. Aber jetzt? Ich glaube nicht dran, Torak.«
    »Ja, ich weiß«, erwiderte er dann immer, »aber ich heule trotzdem. Vielleicht findet Wolf ja mich.«
    Doch sechs Monde waren vergangen und Wolf hatte nicht zu ihm zurückgefunden. Torak hatte sich einzureden versucht, das sei in Wahrheit ein gutes Zeichen, denn dann sei Wolf bei seinem neuen Rudel glücklich, aber aus irgendeinem Grund schmerzte ihn diese Vorstellung am allermeisten. Hatte Wolf ihn denn ganz vergessen?
    Der Wind trug leise, ferne Stimmen heran.
    Torak setzte sich auf.
    Ein Rudel
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