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Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)

Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)

Titel: Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Autoren: Peter Bergmann
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mitgenommen? Plötzlich, schneller als befürchtet, erlosch auch der schwache Schein. Sie flüchtete sich an die Mauer zu ihrer Linken und berührte sie mit der Hand. Jetzt kam es darauf an, die einmal gewählte Richtung beizubehalten, so gut es ging. Vollkommene Schwärze hüllte sie ein. Und – doch dafür war sie dankbar – auch vollkommene Stille. Die größte Gefahr drohte nun von den Seitengängen. Wenn sie in einen Seitengang geriet und sich verirrte, konnte sie nur noch auf die Außenwelt hoffen. Auf Antonio und seine Fähigkeit, rechtzeitig das Richtige zu tun. Eine Aussicht, die ihre Stimmung nicht hob. Wenn er sich nur nicht allein auf die Suche nach ihr machte! Konzentriert tastete sie sich Schritt für Schritt voran. Dann sprang die Mauer im rechten Winkel zurück. Nische oder Gang? Sie machte die Wendung mit und setzte Fuß vor Fuß. Schuhgröße 36 ergibt fünfmal hintereinander ungefähr einen Meter. Sie traf auf eine weitere Wand. Also Nische. Das wiederholte sich mehrere Male. Dann zählte sie 30 Fußlängen in die neue Richtung. Sie schätzte, dass keine der Nischen tiefer als fünf Meter reichte. Also Seitengang. Sie wechselte die Hand, drehte um und kehrte zur Abzweigung zurück. Trotz ihrer Anspannung atmete sie nicht mehr so schwer. Wurde die Luft besser?
    Nun musste sie den Kontakt zur Mauer aufgeben, um den Seitengang zu überwinden. Drei, höchstens vier Meter geradeaus gehen, das kann man auch bei völliger Dunkelheit. Sie zögerte. Sie dachte an Theseus im Labyrinth des Minotaurus, an den Faden der Ariadne, der ihm den Weg gewiesen hatte. Ihre Wolljacke könnte den Faden liefern. Doch woran sollte sie ihn befestigen? Chiara gab sich einen Ruck, ertastete aus dem Verlauf der Mauer die Richtung und ging ohne Faden mit weit ausgestreckten, vorsichtig rudernden Händen los. Sie traf problemlos auf die weiter führende Wand. Wieder folgten Nischen. Dann wieder ein Gang. Wieder stieß sie blind in die Dunkelheit vor. Und plötzlich berührte etwas ihr Gesicht. Umhüllte es und streifte über Stirn, Wangen, Nase und Lippen. Etwas Weiches, Nachgiebiges, Entsetzliches. Sie stieß einen lauten Schrei aus und riss im Reflex die Hände nach oben, um sich dagegen zu wehren.

12___
    Chiara verschwand im Gutshaus, Antonio blieb unschlüssig am offenen Tor stehen. Einerseits, um zu lauschen, andererseits, um den Hof und die Umgebung, soweit er sie einsehen konnte, im Auge zu behalten. Doch es hielt ihn nicht lange an seinem Platz. Er begann mit großen Schritten auf und ab zu gehen, um Mauerecken zu blicken und durch Spalten und Ritzen in das Innere der Nebengebäude zu spähen. Er hätte sie nicht alleine gehen lassen dürfen. Aber das sagte sich leicht. Wann hatte sich Chiara jemals etwas vorschreiben lassen? Von ihm oder irgendwem? Nicht einmal von ihrem Vater.
    Nichts zu hören außer dem Gezwitscher der Zeisige, die in der alten Eiche von Ast zu Ast hüpften und den nahenden Frühling herbei zirpten. Einige Male drehte er sich rasch um, weil er sich beobachtet fühlte. Niemand ließ sich blicken. Doch was hieß das schon? Auf den verwilderten Hängen, hinter dem herumstehenden Gerümpel, unter den Dächern gab es genügend Verstecke, um Dutzende Beobachter zu verbergen. Antonio blickte auf seine Uhr. Sie zeigte 20 Minuten vor zwölf. Bis zwölf würde er warten und dann... Was dann? Dann würde er etwas unternehmen. Irgendwas.
    Er näherte sich dem Wagen. Durch die Seitenscheibe betrachtete er das Ding. Fremd und unnahbar lag es auf dem Rücksitz. Ob es wertvoll war? Im hellen Tageslicht musste man genau hinsehen, um sein Leuchten zu erkennen. Ein plötzlicher Schreck durchzuckte Antonio. Konnte es sich um radioaktive Strahlung handeln? Hatte es ihn womöglich schon verstrahlt? Aber er beruhigte sich rasch wieder. Radioaktivität aus einer 300-jährigen Truhe – ausgeschlossen. Besonders logisch klang dieser Schluss nicht, da er ja auch keine andere Erklärung für das Leuchten fand, doch ihm genügte es.
    Sah das Ding gefährlich aus? Was sieht denn gefährlich aus? Ein sprungbereites Raubtier, die Rückenflosse eines Hais, die sich im Meer rasch nähert, bösartige Waffen, rauchende Säuren, ein eifersüchtiger Mann mit einem Beil in seinen Händen, Flugzeuge, die Bomben regnen lassen... Das Ding wies nichts in dieser Art Bedrohliches auf, es sah nur fremdartig aus. Vielleicht, weil die unterschiedlichen geometrischen Formen, aus denen das Licht drang, so asymmetrisch und anscheinend planlos
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