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Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)

Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)

Titel: Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Autoren: Peter Bergmann
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vor den hohen Fenstern. Sie wickelte sich in ihren rosa Frotteebademantel und trat auf den kleinen Balkon, der wie eine Kanzel an der grauen Steinfassade klebte, höher als viele Dächer von Florenz. Ihr Blick streifte die großen und kleinen Baudenkmäler der Stadt, das Gewirr der grau und rot schattierten Flächen, verharrte auf einem winzigen Erker, aus dessen zerbrochenem, glitzerndem Fenster eine Taube ihren Kopf reckte und die Morgenluft atmete wie sie. Sie lächelte, als sie sich umwandte und in die Küche ging, um die Espressomaschine einzuschalten. Auf einige Scheiben Stangenweißbrots verteilte sie, was der Kühlschrank hergab. Schafkäse und salzige, schwarze Oliven. Sie war seit Tagen nicht zum Einkaufen gekommen. Nach dem Frühstück ließ sie heißes Wasser in die Wanne laufen. Freistehend auf Greifenklauen, emailliert, vielfach ausgebessert. Eine Antiquität. Maria Theresia war belächelt worden wegen ihrer Marotte, regelmäßig zu baden. Eine fortschrittliche Frau, bei allem spanisch starren Zeremoniell ihres Hofes.
    Chiara döste mit geschlossenen Augen im dampfenden Wasser, ein feines, formvollendetes Gesicht mit makelloser Haut, den Kopf umrahmt vom dunkelblonden Fächer ihrer dichten Locken.
    Die kaiserliche Wanne. Das Eingießen des Wassers durch kaiserliche Diener in strengen Uniformen. Der strenge Geruch. Alles roch viel strenger.
    „Öffnet die Fenster!“
    Eine helle Frauenstimme, erhaben über Arroganz und Widerspruch. Frische Luft. Ein Wink. Bis auf die Zofe verlassen alle den Raum unter tiefen Verneigungen. Die Zofe hilft beim Entkleiden. Sie hilft beim Einstieg in die Wanne.
    „Geh jetzt.“
    Endlich allein. Eine Fliege ist durchs offene Fenster geflogen und leistet Gesellschaft. Sie landet auf dem Wannenrand. Gefällt der Fliege, was sie sieht? Weiße kaiserliche Haut über kaiserlich gerundetem Fleisch? Darf sie das sehen?
    Sieht nicht ein jeder irgendwann, was irgendwer einmal gesehen hat?
    Eine blitzschnelle kleine Hand, schneller sogar als die Fliege, zuckt hoch und fängt das Insekt, bevor es fliehen kann. Die kleine Faust senkt sich mit ihrem Gefangenen unter die Wasseroberfläche. Sie hat kleine Spalten zwischen den Fingern, die für die Fliege wie dicke Gitterstäbe sind. Sie gleitet über kaiserliche Rundungen, Wölbungen und Höhlungen. Über intimste Kaiserlichkeit. Wird irgendwann ein jeder sehen, was irgendwer gesehen hat?
    Ein helles kaiserliches Lachen. Die Faust schnellt hoch, mit einem Schlenkern der weißen Hand wird die Fliege weggeschleudert. Auf zitternden Beinen steht sie, mit nassen verklebten Flügeln, die Facettenaugen schwarz und dunkelviolett.
    Chiara tauchte ihren Kopf mehrmals unter und strich sich mit der Hand das Wasser aus dem Gesicht. Die Bilder ihrer Tagträume gerieten ihr in letzter Zeit allzu genau. Sie verselbständigten sich. Hatte sie eben mit den Augen der Kaiserin gesehen oder mit denen der Fliege? Das Gefängnis der kleinen, weißen Faust von außen und von innen? Manches war so eindringlich, dass sie sich dem Gefühl, es wirklich gesehen zu haben, nicht entziehen konnte. Sie sah mit den Augen einer toten Kaiserin und mit den Augen einer toten Fliege. Und die seltsame Frage?
    Sieht nicht ein jeder irgendwann, was irgendwer einmal gesehen hat?
    Chiara Fontana war eine nüchterne Historikerin ohne Hang zum Übersinnlichen. Aber konnte etwas, das sie so überzeugend mit ihren Sinnen wahrnahm, übersinnlich sein? Oder nur eine ziemlich ausgefallene Art, verrückt zu werden? Sie würde mit ihrem Vater darüber sprechen.
     

3___
    In dem Moment, als sie aus der Wanne stieg und sich im Schein der Morgensonne abtrocknete, war es Nacht in Kalifornien. Tiefste, sternenlose Nacht. Die Scheinwerferkegel zweier knapp hintereinander fahrender Autos durchbohrten die Schwärze. In rascher, monotoner Folge beleuchteten sie nackten Fels, zerfallene Straßenbegrenzungen und die scheinbar endlose Leere der Schlucht. Der hintere Wagen leuchtete auch in den vorderen. In eine silberfarbene Limousine mit drei groß gewachsenen Männern auf dem Rücksitz. Der Beifahrersitz war leer.
    Der mittlere Mann hieß Fred Miller. Von Beruf Undercover-Agent der Narcotic Squad Los Angeles. Er hätte ohnmächtig sein müssen. Was von seinen grausam zugerichteten Beinen übrig war, steckte in einem alten, leeren Farbeimer, der sich langsam, wie eine primitive Wasseruhr, mit seinem Blut füllte.
    Er wusste, dass es sich um seine letzte Fahrt handelte. Er wusste, dass ihn nicht
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