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Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)

Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)

Titel: Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Autoren: Peter Bergmann
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durchzuckte Chiara. Was, wenn die schwere Tür nicht mehr offen stand? Wenn sie sich hier unten eingeschlossen fanden? Mit einem Mal tauchte das Bild eines schaurigen Verlieses vor ihr auf, schob sich wie eine halb transparente Leinwand vor die kahlen Mauern, Gänge und Nischen. Ein Verließ aus undurchdringlichem Stein, schwarzem Eisen und roter Glut, die uralten Grundelemente aller Kerker und Folterkammern. Gestalten mit Kapuzen bewegten sich lautlos zwischen angeketteten Opfern und gingen ihrem unsäglichen Handwerk nach. Langsam schwand das Bild, doch aus den Augenwinkeln sah sie immer noch schwache, kraftlose Bewegungen, verstümmelte Hände, die sich ihr flehend entgegenstreckten. Das Entsetzen drohte ihren Verstand zu überwältigen. Sie zwang sich dazu, den Kopf zu wenden, hinzusehen. Und da streckte sich nichts. Keine Verstümmelten, keine Ketten, keine Opfer, keine Glut. Ruhig atmen, befahl sie sich. Ruhig und tief atmen. Es ist weder die Zeit noch der Ort, um verrückt zu werden. Oder siehst du wieder etwas, was irgendwer einmal gesehen hat?
    Die Kellertür stand unverändert offen. Sie schlüpften durch, Chiara zog sie hinter sich ins Schloss. Als sie den Riegel vorschieben wollte, fand sie ihn zerbrochen.
    „Mein Werk“, erklärte Antonio, der auf sie wartete. „Als ich früher zum zweiten Mal hinein ging, fühlte ich mich wohler so. Nicht so eingeschlossen, verstehst du?“
    „Ich verstehe. Und ich hätte es gerne ein paar Minuten früher gewusst“, bemerkte sie.
    „Oh“, sagte er. „Natürlich. Entschuldige.“
    Beide atmeten tief durch, als sie aus der Eingangshalle ins Freie traten. Die Beklemmung verflüchtigte sich. Sie vergeudeten dennoch keine Zeit. Antonio schloss die Türflügel. Sie verstauten ihre Funde auf dem Rücksitz und bogen in die Zypressenallee, ohne sich nochmals umzusehen.
    Chiara sank in ihren Sitz. Wie Schläge empfand sie den raschen Wechsel von Licht und Schatten. Und schlagartig wich auch ihre Erleichterung einem höchst unsympathischen Gefühl persönlichen Versagens. Sie waren wie kleine Kinder aus dem dunklen Keller geflüchtet, hatten sich von ein paar Geräuschen und Hirngespinsten vertreiben lassen. Antonio schlängelte sein Auto durch die Schlaglöcher der Allee.
    „Stopp!“ sagte sie scharf. Er reagierte nicht schnell genug. Sie sagte nochmals „Stopp!“ und zog gleichzeitig die Handbremse an. Das Heck des Alfas brach aus, sie drehten sich um 90 Grad und standen still. Der Motor starb ab.
    „Spinnst du?“ fragte Antonio empört.
    „Wir müssen wissen, was in dem Keller los ist“, erklärte sie unbeeindruckt. „Wir können nicht so davon laufen.“ Sie machte eine Handbewegung Richtung Rücksitz. „Nicht, nachdem wir das da gefunden haben.“
    Sie hatten noch kein Wort über das Ding verloren, doch Antonio verstand. Er reagierte nicht begeistert und murmelte: „Du spinnst wirklich!“
    Dann setzte er den Wagen in Gang und fuhr – viel langsamer jetzt – zum Gut zurück. Wieder hielten sie vor dem lang gestreckten Ziegelbau. Diesmal nicht in sentimentaler Stimmung. Antonio wendete, ehe er den Motor ausschaltete. Chiara sah auf die Uhr. Sie waren kaum zehn Minuten weg gewesen. Die Torflügel standen offen.
    „Hast du vorhin nicht abgesperrt?“
    „Doch“, sagte er nervös. „Das gefällt mir nicht. Wir sollten verschwinden.“
    Sie griff nach ihrer Lampe und stieg aus.
    „Du bleibst hier. Für den Fall, dass jemand auftaucht. Oder zurückkommt.“
    Er wurde plötzlich sehr bleich. „Ich werde gehen. Du bleibst.“
    Sie schüttelte ihren Lockenkopf. „Erinnerst du dich nicht? ‚Wenn es etwas zu finden gibt, findest du es.’ Ich gehe.“
    Ihre Augen hatten jene eigentümliche Starre angenommen, die keinen Spielraum für Verhandlungen ließ. Nicht für Antonio. Um seiner Ehre willen muss man sagen: Eigentlich für niemanden. Sie warf ihm ihr Handy zu.
    „Da unten habe ich keinen Empfang. Wenn es zu lange dauert, komm‘ bitte nicht allein. Ruf Hilfe.“
    Sie drehte sich um und ging zum Tor. Das Schloss hing unbeschädigt an seinem dünnen Bügel. Ein Teil des provisorischen Beschlags hatte sich aus dem Holz gelöst. Deshalb war das Tor aufgeschwungen. Vielleicht hatte Antonio in der Eile vorhin zu fest zugepackt. Sie betrat die Halle, ging zur Kellertreppe und lauschte in die Stille. Sie stieg hinab. Im Keller erschien ihr alles unverändert. So weit man sehen konnte. Sie hielt die Lampe nach vorne und drehte sie wie einen Suchscheinwerfer, um
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