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Charlotte

Charlotte

Titel: Charlotte
Autoren: Felix Thijssen
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Bluse breitete sich ein Blutfleck aus.
    »Habt ihr einen Verbandskasten?«, fragte ich Lily. »Los, schnell!«
    Ich nahm mein Messer, schnitt eine Öffnung in den Ärmel, steckte beide Zeigefinger hinein und riss den Stoff auseinander. Die Fleischwunde knapp über dem Bizeps sah hässlich aus, aber wahrscheinlich war kein Knochen getroffen. Sie würde eine Narbe zurückbehalten.
    »Lassen Sie mich mal.« Heleen schob mich an der Schulter beiseite, kniete sich neben Charlotte und nahm von Gwenaëlle einen Verbandskasten an. Sie inspizierte die Wunde. »Es ist nichts Ernstes«, sagte sie. »Aber es muss genäht werden. Ich lege erst mal einen Notverband an.«
    Charlotte kämpfte gegen die Schmerzen. »Es tut mir so Leid«, stammelte sie.
    »Mach dir keine Sorgen.« Heleen lächelte. »Das ist nur eine etwas ungewöhnliche Art, sich kennen zu lernen.« Sie hatte ihren Schock überwunden und nahm das Heft wieder in die Hand. »Gwenaëlle, lass Harry vorfahren, Lily und ich begleiten Charlotte in die Klinik. Und bitte sag Theun, er soll die Unordnung hier beseitigen.«
    Heleen nickte Charlotte aufmunternd zu. »Wir lassen dich nicht mehr allein.« Ich sah, wie sie überlegte, was sie noch sagen konnte, um das Mädchen zu beruhigen. »Es tut mir so Leid, dass deine Mutter gestorben ist«, fuhr sie fort. »Ich kann sie nicht ersetzen, aber das hier ist das Haus deines Vaters und damit auch deines. Jennifer, Lily und ich möchten dir gern eine Familie sein, wenn du uns haben willst.«
    Charlottes Lippe zitterte und Leonoor begann hysterisch zu kreischen. »Das Haus deines Vaters! Mädel, du hast es geschafft! Sei froh, dass der Mistkerl nicht mehr da ist, um dich raus in die Kälte zu schicken!«
    Heleen straffte den Rücken. Ich drehte mich um.
    Wasman und der Beamte zogen Leonoor an ihren auf dem Rücken gefesselten Händen hoch und Wasman sagte förmlich: »Leonoor Brasma, ich verhafte Sie wegen Mordes, Entführungsversuchs, Betrugs und was sich sonst noch so alles herausstellen wird.«
    »Du kannst mich mal«, zischte Leonoor und spuckte Wasman ins Gesicht. Der Beamte riss sie zurück.
    Wasman nahm sein Taschentuch und wischte sich beherrscht die Wange sauber. »Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Sollten Sie sich selbst keinen leisten können, wird Ihnen der Staat einen Pflichtverteidiger zuweisen.«
    Speichel hing an Leonoors Mund und ihre dünnen Haare klebten ihr am Kopf. Sie war kaum wiederzuerkennen. Harry betrat die Diele und starrte entgeistert die Polizisten und den zersplitterten Kronleuchter an. Als er Leonoor sah, wandte er den Kopf ab, aber in Leonoors Augen blitzte ein Funke des Wiedererkennens auf: »Hey, der Bodybuilder aus dem Schwulenclub!«
    Harry ging mit steifen Schultern auf seine Arbeitgeberin zu. Ich sah Wasman die Stirn runzeln.
    »Schafft um Gottes willen dieses Weib hier weg«, sagte ich.
    Der Ermittler nickte dem Polizisten zu. Sie nahmen sie zwischen sich und eskortierten sie nach draußen.
    Harry warf Heleen einen nervösen Blick zu. Sie hatte ein Desinfektionsmittel auf die Wunde gesprüht und hastig einen Verband darum gewickelt. Ein wenig Blut sickerte durch. Harry bückte sich zu dem Mädchen hinunter. »Hallo, Charlotte.« Vorsichtig schob er die Hand unter ihren gesunden Arm und half ihr mit Heleen zusammen auf.
    »Kannst du laufen?«, fragte Heleen.
    Charlotte nickte. »Ich habe nur vor Schreck weiche Knie«, sagte sie.
    Heleen lächelte und sagte: »Lily, hilf ihr zum Auto, ich komme gleich.«
    Ich sah Harrys angespannten Gesichtsausdruck, als sie an mir vorbei hinausgingen, und nickte ihm beruhigend zu: »Mach dir mal keine Sorgen.«
    Der Gärtner kam mit einer Schubkarre in die Diele und Heleen erteilte ihm Instruktionen. Ich zog Wasman mit nach draußen. Er hielt Leonoors Pistole in einer Plastiktüte in der Hand und blieb vor der Tür stehen. »Was war das mit dem Schwulenclub?«, fragte er.
    »Absolut hundert Prozent nichts«, antwortete ich. »Harry ist in Ordnung, du kannst ihn in Ruhe lassen.«
    »Ich mag keine losen Enden.«
    Leonoor saß unbequem auf ihren Handschellen im Streifenwagen, der hinter dem neuen Honda geparkt war. Der Beamte stand daneben, zusammen mit einem Kollegen, der in ein Funkgerät sprach. Neben uns wurde Charlotte in den Mercedes gesetzt und Lily rutschte neben sie. Blasses Sonnenlicht ließ einen Schimmer von Herbstfeuchtigkeit auf dem Haus und den Autos erglänzen. Die Wolkenwand näherte sich von Westen her, eine zielstrebige Invasionsfront, die
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