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Cassia & Ky – Die Flucht

Cassia & Ky – Die Flucht

Titel: Cassia & Ky – Die Flucht
Autoren: Ally Condie
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größer als ich, aber nicht viel, und ich habe vor vielen Jahren hier draußen das Kämpfen gelernt. Jetzt, wo ich zurück bin, erinnere ich mich daran, genau wie an den Schnee auf dem Plateau. Ich spanne die Muskeln an.
    Doch Vick beruhigt sich wieder und bemerkt unvermittelt: »Du ritzt dir keine Kerben in die Stiefel.« Seine Stimme klingt wieder normal, der angriffslustige Blick ist verschwunden.
    »Stimmt«, sage ich.
    »Warum nicht?«
    »Weil es niemanden etwas angeht«, antworte ich.
    »Was denn? Wie lange du durchgehalten hast?«, fragt Vick.
    »Nein, niemanden geht irgendetwas über mich an«, erwidere ich.
     
    Wir lassen die Gräber hinter uns und setzen uns zum Mittagessen auf eine Gruppe Sandsteinfelsen außerhalb des Dorfes. Ich bin umgeben von den Rot-, Orange- und Brauntönen meiner Kindheit, und das Gestein fühlt sich noch genauso an wie damals: trocken, rau und – jetzt, im November – kalt.
    Ich benutze den Lauf meiner Waffe, um eine Markierung in den Sandstein zu kratzen. Da ich niemandem verraten will, dass ich schreiben kann, ritze ich nicht ihren Namen ein.
    Stattdessen beschreibe ich eine Kurve. Eine Welle. Wie ein Ozean oder ein Stück grüner Seide, das im Wind flattert.
    Kratz, kratz.
Der Sandstein, der bereits von anderen Kräften geformt wurde, Wasser und Wind, wird jetzt auch durch mich verändert. Der Gedanke gefällt mir. Sonst habe ich immer mich selbst in die Form gebracht, in der mich andere sehen wollten. Mit Cassia oben auf dem Hügel – nur da war ich wirklich ich selbst.
    Ich bin noch nicht so weit, ihr Gesicht zu zeichnen. Ich weiß nicht einmal, ob ich das könnte. Aber ich kratze eine weitere Kurve in den Stein. Ein wenig gleicht sie dem C, das ich ihr zuerst beibrachte. Und noch eine Kurve, während ich mich an ihre Hand erinnere.
    Vick lehnt sich hinüber, um besser sehen zu können, was ich tue. »Man kann nichts erkennen.«
    »Doch. Es sieht aus, wie eine Mondsichel«, erwidere ich.
    Vick blickt hinauf zum Plateau. Vorhin sind Flugschiffe gekommen und haben die Leichen abtransportiert. Das ist heute zum ersten Mal geschehen. Ich weiß nicht, was die Gesellschaft mit ihnen vorhat, aber ich wünschte, ich hätte daran gedacht, hinaufzusteigen und etwas zum Gedenken an die gefallenen Lockvögel in den Fels zu ritzen.
    Denn jetzt gibt es keinerlei Erinnerung mehr daran, dass sie je existiert haben. Der Schnee ist geschmolzen, bevor sie Fußspuren darin hinterlassen konnten. Ihr Leben endete, bevor sie sich auch nur überlegen konnten, was sie damit anfangen wollten.
    »Findest du, dass der Junge Glück gehabt hat?«, frage ich Vick. »Du weißt schon, der, der im Lager gestorben ist, bevor wir in die Dörfer gebracht wurden.«
    »Glück …«, sagt Vick, als wüsste er nicht mal, was das bedeutet. Vielleicht ist es auch so. Der Begriff ›Glück‹ ist der Gesellschaft ein Dorn im Auge. Und hier draußen haben wir ohnehin nicht viel davon.

    In der ersten Nacht nach unserer Ankunft gab es einen Angriff auf die Dörfer. So schnell wir konnten, suchten wir Deckung. Ein paar von den Jungs rannten hinaus auf die Straße und schossen in die Luft. Durch Zufall waren Vick und ich im selben Haus gelandet. Zusammen mit zwei anderen, an deren Namen ich mich nicht erinnere. Sie leben nicht mehr.
    »Warum bist du nicht draußen und schießt zurück?«, fragte mich Vick. Wir hatten nicht viel miteinander geredet, seitdem wir den Jungen zum Fluss gebracht hatten.
    »Weil es sinnlos ist«, erwiderte ich. »Die Munition ist nicht echt.« Ich legte meine Waffe neben mich auf den Boden.
    Auch Vick setzte sein Gewehr ab. »Seit wann weißt du das?«
    »Seitdem sie uns die Waffen gegeben haben«, antwortete ich. »Und du?«
    »Auch von Anfang an«, sagte Vick. »Wir hätten es den anderen sagen sollen.«
    Ich stimmte ihm zu. »Das war ein Fehler von mir. Ich dachte, wir hätten etwas mehr Zeit.«
    »Zeit«, entgegnete Vick, »ist genau das, was wir nicht haben.«
    Draußen zerfiel die Welt in Trümmer, und irgendjemand fing an zu schreien.
    »Ich wünschte, ich hätte ein richtiges Gewehr«, seufzte Vick. »Damit würde ich alle auf diesen Flugschiffen zerstören. Sie würden zu Boden rieseln wie die Funken eines Feuerwerks.«

    »Fertig«, sagt Vick nun und faltet seinen Essensbehälter aus dünnem Aluminium akribisch zu einem silbernen Quadrat zusammen. »Wir sollten uns lieber wieder an die Arbeit machen.«
    »Warum geben die uns eigentlich nicht einfach die blauen Tabletten?«,
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