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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le
Autoren: Schatten von gestern (Smiley Bd 1)
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Gesicht.
Jetzt mußten sie ganz nahe am Fluß sein, denn er konnte den Geruch von Teer und
Koks, die heimtückische Kälte des offenen Wassers wahrnehmen. Einen Moment
lang dachte er, Dieter wäre verschwunden. Er beschleunigte seine Schritte,
stolperte über einen Randstein, rannte weiter und sah das Geländer des
Themsekais vor sich. Stufen führten zu einem eisernen Tor im Geländer, das halb
offenstand. Er stand an dem Durchgang und sah nach unten ins Wasser. Eine starke
Holztreppe führte hinunter, und Mendel hörte das ungleichmäßige Echo von
Dieters Schritten, der, durch den Nebel verborgen, seinen merkwürdigen Weg
hinunter zum Wasser fortsetzte. Mendel wartete zuerst und ging dann vorsichtig
und leise die Holztreppe hinab. Sie war solide gebaut, mit einem starken
Holzgeländer beiderseits. Sie war wohl schon ziemlich alt, dachte Mendel. Unten
war ein langer schwimmender Steg aus Öltonnen und Planken an der Treppe
befestigt. Man konnte drei verwahrloste alte Hausboote durch den Nebel
erkennen, die sanft in ihren Vertäuungen schaukelten.
    Lautlos
schlich sich Mendel auf den Steg und sah sich die Hausboote der Reihe nach
genau an. Zwei lagen knapp nebeneinander und waren durch eine Planke verbunden.
Das dritte lag etwa fünf Meter weiter vertäut, und in der Kabine vorne brannte
ein Licht. Mendel kehrte zum Kai zurück und schloß das Tor sorgfältig hinter
sich.
    Langsam
ging er die Straße entlang. Er wußte noch immer nicht genau, wo er war. Nach
ungefähr fünf Minuten bog der Gehsteig plötzlich nach links ab und begann
leicht anzusteigen. Er vermutete, daß er auf einer Brücke war. Er entzündete
sein Feuerzeug, und die lange Flamme beleuchtete eine Steinmauer zu seiner
Rechten. Er bewegte das Feuerzeug hin und her und sah endlich eine nasse,
schmutzige Messingplatte, auf der »Battersea Bridge« stand. Dann ging er zum
Eisentor zurück, blieb einen Augenblick lang stehen und orientierte sich nach
der Erinnerung.
    Irgendwo
rechts über ihm mußten die vier großen Schornsteine des E-Werkes von Fulham im
Nebel verborgen sein: Linker Hand war die Cheyne Walk mit der Reihe von kleinen
eleganten Booten, die bis Battersea Bridge reichte. Der Platz, an dem er stand,
markierte die Trennungslinie zwischen dem Eleganten und dem Dreckigen, dort,
wo die Cheyne Walk auf die Lots Road trifft, eine der scheußlichsten Straßen
in ganz London. Die Südseite dieser Straße bilden Lagerhäuser, Werften und
Fabriken, während die Nordseite aus einer ununterbrochenen Reihe von schwarzen
schmutzigen Häusern besteht, wie sie für die Seitenstraßen von Fulham typisch
sind.
    Im
Schatten der vier Schornsteine, vielleicht zwanzig Meter vom Anlegeplatz an
der Cheyne Walk entfernt, hatte also Dieter einen Unterschlupf gefunden. Ja,
Mendel kannte den Platz gut. Nur ein paar hundert Meter weiter den Fluß hinauf
hatte man die irdischen Überreste von Mr. Adam Scarr aus den nassen Fluten der
Themse geborgen.
     
    Echo im Nebel
     
    Es war
schon lange nach Mitternacht, als Smileys Telefon läutete. Er stand aus dem
Lehnstuhl auf, den er sich vor den Gaskamin gerückt hatte, und ging mühsam die
Stiege hinauf, wobei er sich im Gehen mit der rechten Hand fest am
Treppengeländer anhielt. Ohne Zweifel war es Peter oder die Polizei, und er
würde eine Aussage machen müssen. Vielleicht war es sogar die Presse. Der Mord
hatte zu einem Zeitpunkt stattgefunden, daß er gerade noch in die heutigen
Zeitungen kommen konnte. Für den Abendbericht im Rundfunk war es ja, Gott sei
Dank, zu spät gewesen. Wie würden die Schlagzeilen lauten? »Wahnsinniger
mordet im Theater«? oder »Mord durch Würgegriff - das Opfer eine angesehene
Dame« ? Er haßte die Presse genauso, wie er die Reklame und das Fernsehen
haßte, er haßte diese Massenmedien, die ganzen rücksichtslosen
Suggestionsmittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Alles, was er liebte, war das
Produkt eines ausgeprägten Individualismus. Deshalb haßte er jetzt Dieter und
das, wofür er eintrat, stärker als jemals vorher. Es war die unerträgliche
Anmaßung, die Masse vor das Individuum zu stellen. Wann hatten
Massenphilosophien je Segen oder Erkenntnis gebracht? Dieter kümmerte das
menschliche Leben nicht das geringste. Er träumte nur von Armeen gesichtsloser
Menschen, die durch ihren kleinsten gemeinsamen Nenner zusammengehalten
wurden. Er wollte die Welt so schaffen, als wäre sie ein Baum, den er nach
Belieben zustutzen konnte, damit sie dem liniengetreuen Idealbild entspreche.
Zu
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