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Carlotta steigt ein

Carlotta steigt ein

Titel: Carlotta steigt ein
Autoren: Linda Barnes
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der Diele. Der Geruch von Mottenkugeln und Lavendel stach
mir in die Nase. Unter dem Mantel trug sie ein blaues Kleid mit Blumendruck und
einem so ehrbar hochgeschlossenen Kragen, daß sie nur direkt aus der Kirche
kommen konnte. Der Wollmantel hatte eine gewisse Fülle vorgetäuscht. Ohne ihn
war sie so dünn, daß ich die spitzen Knochen zwischen ihren Schultern sehen
konnte.
    Sie öffnete den Mund, um etwas
zu sagen, aber außer einem trockenen Hüsteln kam nichts, und so machte sie ihn
wieder zu und fummelte eine Weile mit ihren Handschuhen herum, rollte sie zu
einem festen Ball zusammen und steckte sie in eine Manteltasche. Meine Klienten
sind im allgemeinen alle ziemlich nervös. Die meisten würden lieber eine
Wurzelkanalbehandlung ohne Betäubung über sich ergehen lassen, als mit einem
Fremden über ihre Probleme zu sprechen. Ich bot Kaffee an, um das unbehagliche
Schweigen zu brechen.
    Sie nickte dankbar und nahm
sich Zeit bei der Durchquerung des Wohnzimmers. Ich hätte nicht sagen können,
ob sie wegen ihres Alters, das ich mit Ende Sechzig veranschlagte, so langsam
ging, oder weil sie die Einrichtung begutachtete. Ihre Augen wanderten über das
Mobiliar, und sie gluckste und murmelte vor sich hin, als gefiele es ihr.
    Falls die Wohnzimmereinrichtung
für sie der Schlüssel zu meinem Charakter war, machte sie einen großen Fehler.
Alles ist im großen und ganzen so, wie Tante Bea es nach ihrem Tod hinterlassen
hat. Ich hatte sogar ihren blöden Sittich behalten, den Käfig jedoch an ein
Seitenfenster des Erkers gestellt, damit er nicht das Licht wegnahm. Der alte
Fluffy kreischte eine Woche lang empört. Das Wohnzimmer ist nicht mein Stil,
aber das stört mich nicht weiter. Der Orientteppich ist ein wenig abgetreten,
sieht aber toll aus, wenn sich das Sonnenlicht darüber ergießt — wie eine
glitzernde Brosche mit Rubinen und Saphiren. Der Samt des Sofas ist um die
hölzerne Schneckenverzierung herum fadenscheinig, und ich poliere auch das
Mahagoni nicht so wie meine Tante. Roz schon gar nicht. Ihre Vorstellung vom
Saubermachen beschränkt sich auf ein halbherziges Schwenken des Staubwedels
hier und da, während ihre Gedanken auf Höheres gerichtet sind.
    Margaret Devens ging unfehlbar
auf Tante Beas Lieblings-Schaukelstuhl zu, setzte sich und lehnte ihren
schmalen Rücken mit einem zufriedenen Seufzer gegen das gestickte Kissen. Sie
paßte in den Stuhl wie das fehlende Teilchen in ein Puzzle. Halb und halb
wartete ich darauf, daß sie ihr Strickzeug hervorholte und drauflosklapperte.
Mir war bisher gar nicht bewußt gewesen, wie sehr ich das Geräusch vermißte.
    Ich holte Kaffee, auch für mich
eine Tasse — mit Sahne und zwei Stücken Zucker — , und stopfte mir schnell
einen Bissen von meinem Sandwich in den Mund. Eifrig kauend rollte ich ein paar
Schokoladenplätzchen auf einen Teller. Als ich endlich ins Wohnzimmer
zurückkam, schaukelte Miss Devens gleichmäßig vor sich hin, mit starrem Blick
und hocherhobenem Kinn. Sie sah wie eine Frau aus, die sich entschlossen hat,
in den sauren Apfel zu beißen, und den Geschmack abscheulich findet.
    Ich setzte mich auf das Sofa,
das mich mit seinem Knarren warnte; es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es
unter meinem Gewicht zusammenbrechen würde. Dicke Klienten scheuche ich mit
stechenden Blicken vom Sofa. Bei Miss Devens bestand keine Gefahr. Sie nippte
an ihrer Kaffeetasse und nahm den Plätzchenteller wohlwollend in Empfang.
    «Wissen Sie, ich bin nur hier,
weil mein Bruder nicht mehr da ist», sagte sie zwischen den Bissen, als setzten
wir ein Gespräch fort, statt es zu beginnen.
    «Nicht mehr da?» Ich war mir
nicht sicher, ob sie damit ein beschönigendes Wort für «tot» gebrauchte, oder
was sonst.
    «Sie befassen sich doch mit
solchen Sachen, nicht wahr?»
    Ich befasse mich nicht näher
mit Toten, und so ging ich davon aus, daß sie meinte, was sie sagte. Nicht mehr
da, also verschwunden. Ich fragte mich, ob sie wohl meine Anzeige in den Gelben
Seiten gesehen hatte. Ich fragte mich, ob überhaupt jemand sie sieht. Ich
bezahlte extra für den augenfälligen Druck in Rot. «Wenn Sie einen Vermißten
suchen lassen wollen», sagte ich sanft, «müssen Sie zur Polizei gehen. Die
haben mehr Leute und mehr Möglichkeiten. Schritt eins. Geben Sie eine
Vermißtenmeldung auf.»
    Sie biß sich auf die Unterlippe
und blickte hilflos drein. «Ich möchte nicht unbedingt die Polizei
einschalten.»
    «Gibt es einen bestimmten Grund
dafür?»
    Sie
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