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Carlotta steigt ein

Carlotta steigt ein

Titel: Carlotta steigt ein
Autoren: Linda Barnes
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wird.
    «Ich früher auch», sagte sie.
    Ich fragte: «Was, glauben Sie,
ist mit ihm passiert?»
    «Ich weiß es nicht.»
    «Sie sagten, er sei verheiratet
gewesen.»
    «Auch da hätte er mehr für sich herausholen können. Sein ganzes Leben. Könnte, sollte, hätte. Aber er
hat das erstbeste Mädchen geheiratet... seine Frau Betty... nun ja, sie war
nicht von unserem Schlag.»
    «Irin?»
    «Sie war Irin, ja, aber das
stört mich nicht weiter.» Miss Devens benutzte das Wort «Irin» genauso wie die
Verwandten meines Vaters, alles vornehme Iren, wenn sie von den Leuten
sprachen, die sie Shanty-Iren nannten. «Es war nicht das, was man eine
glückliche Ehe nennt. Ich glaube, es war eine Erleichterung für ihn, als sie starb.
Aber was kann ich dazu sagen? Was weiß ich schon über Liebe und Ehe,
Glücklichsein oder nicht?» Sie lächelte wehmütig. «Ich könnte einer
Klostergemeinschaft angehören nach allem, was ich darüber weiß.»
    «Hat Ihr Bruder Kinder?»
    Sie seufzte, und das Lächeln
verschwand von ihrem Gesicht. «Die Ehe war nicht gesegnet. In vieler Hinsicht
nicht.»
    «Könnte Ihr Bruder bei einem
Freund sein?»
    «Ich fürchte, ich — ich kenne
seine Freunde nicht so gut, wie man meinen könnte.»
    «Trinkt er?» Mit Blick auf die
Taxifahrer, die ich kannte, nahm ich mir vor, in diesem Punkt gleich reinen
Tisch zu machen.
    «Ab und zu. In einem irischen
Pub.»
    Aha. Jetzt wußte ich, wo ich
suchen mußte. Es gibt 200 irische Pubs in Boston. Und vielleicht weitere
hundert in Cambridge.
    «Übermäßig?» forschte ich
weiter, so höflich ich konnte.
    «Bisweilen schon», antwortete
sie zurückhaltend. «Sie wissen ja, wie Männer so sind.»
    Das überhörte ich. «Hat er
Sauftouren gemacht?» fragte ich. «Bisweilen?»
    «Nun, verneinen kann ich das
nicht. Nachdem Betty gestorben war, ging er ab und zu aus. Wenn ihn irgendwie
Trübsinn überkam, pflegte er für ein, zwei Tage zu verschwinden. Aber das ist
inzwischen Jahre her. Und er ist nie so lange fortgeblieben. Nie.»
    Ich biß in ein Plätzchen. «Hat
er irgendwelche Sachen mitgenommen?»
    «Sachen?»
    «Haben Sie sich in seinem
Zimmer umgeschaut? Hat er einen Koffer gepackt?»
    «Wenn ja, dann wäre ich nicht
hier, oder? Wenn er eine Reise gemacht hätte, wüßte ich, wo er ist. Mein Bruder
und ich haben eine enge Beziehung miteinander, ganz gewiß.» Sie suchte in ihrer
ausgebeulten Handtasche herum. «Ich habe ein Bild von ihm mitgebracht», sagte
sie, und als sie das Foto ihres Bruders betrachtete, wurden ihre Züge weich.
Sie versuchte zu lächeln, aber ihre Mundwinkel zitterten, und Tränen stiegen
ihr in die Augen.
    «Darf ich es sehen?»
    Sie gab es mir mit zittrigen
Händen.
    Wenn je ein Mensch die
Landkarte Irlands ins Gesicht eingegraben hatte, dann Eugene Paul et cetera.
Ich erkannte ihn von unserer Zeit im Taxiunternehmen her, erinnerte mich vage
an ihn, einen fröhlichen, rotgesichtigen Mann mit widerspenstigem Haarschopf.
Er sah seiner Schwester ein wenig ähnlich, hatte jedoch ein volleres Gesicht
und entschieden weniger Kummerfalten. Er sah aus als wüßte er, wie man sich des
Lebens freut.
    «Wie alt ist er?» fragte ich.
    «Sechsundfünfzig. So sieht er
nicht aus, nicht wahr? Das Nesthäkchen. Völlig verzogen.»
    Er wirkte viel jünger, fast
jungenhaft. Sehr nett.
    Wenn Tante Bea jemanden in
einer ganz bestimmten Art ansah, war alles zu spät. Sie wußte, daß man die
Schulaufgaben nicht gemacht hatte. Sie wußte, daß die Prüfung in Geschichte
schiefgegangen war. Sie konnte einem auf den Grund der Seele blicken und den
Abgrund an Nichtsnutzigkeit ausloten, der dort gähnte. Man denke sich meine
Überraschung, als ich aufsah und bemerkte, daß mich Margaret Devens mit einem
ebensolchen Blick anstarrte — diesem festen, zielbewußten Blick.
    Sie wandte sich rasch ab und
machte fahrige Bewegungen mit den Händen, Ablenkungen, die zu spät kamen. Ich
hatte sie erkannt.
    Nein, ich kannte sie nicht von
früher oder anderswo, jedenfalls nicht persönlich. Aber ich habe Frauen in
ihrem Alter gekannt, Frauen aus Stahl, die in einer Zeit aufwuchsen, als Federn
und Fächer und lange Wimpern zum Klimpern der Hit waren. Die cleveren Damen
hatten das Spielchen gut gelernt. Ich sah in Margaret Devens’ albernen Gesten
und Blumenkleidern und wollenem rosa Mantel und weißen Baumwollhandschuhen das,
was es war: Verschleierungstaktik.
    Sie wäre mir durch die Lappen
gegangen, wenn sie nicht in Tante Beas Stuhl gesessen hätte. Tante Beas
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