Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Carlotta steigt ein

Carlotta steigt ein

Titel: Carlotta steigt ein
Autoren: Linda Barnes
Vom Netzwerk:
betrachtete ihre Hände, als
erwartete sie, darauf die richtige Antwort geschrieben zu finden. «Sehen Sie,
ich will keinesfalls meinen Bruder in Verlegenheit bringen, wissen Sie. Er ist
jünger als ich und immer noch ein bißchen draufgängerisch. Aber ein guter
Mensch, müssen Sie wissen, ein guter Mensch.» Fast trotzig brachte sie das
heraus. Wieder fing sie zu reden an, brach aber gleich wieder ab. Ihre Hände
zitterten.
    Ich schielte auf den Haufen
überfälliger Rechnungen auf dem Eßzimmertisch neben der Katzenpost. Ich mußte
T. C. pfleglich behandeln, bis ich eine Möglichkeit gefunden hatte, wie er
seine zwanzig Riesen kassieren konnte. Natürlich konnte ich noch mehr Mieter
aufnehmen. Ich habe Platz satt, und Studenten würden sich darum reißen, in
Gehweite vom Harvard Square zu wohnen.
    «Wie heißt Ihr Bruder denn?»
fragte ich.
    «Sie sind ein Engel», sagte
sie, «ein Engel.»
    «Halt, stopp! Ich habe noch
nichts entschieden, Miss Devens.»
    «Ach ja, natürlich.» Noch
stärkeres Händezittern. «Aber Sie haben sich doch auch nicht anders
entschieden, oder?»
    «Ich brauche ein paar
Informationen. Zum Beispiel den Namen Ihres Bruders.»
    Offenbar hatte ich sarkastisch
geklungen. Die Unterlippe der Dame begann zu zittern, und mir war zumute, als
hätte ich meine unbekannte Großmutter die Treppe hinuntergestoßen. Meine Runden
als Bulle hatten meinen Manieren und meinem Vokabular nicht gerade gutgetan.
Den dreckigen Pennern, mit denen ich damals zu tun hatte, konnte ich nicht mit
«bitte» oder «danke» kommen.
    «Lassen Sie sich Zeit, Miss
Devens», murmelte ich, «noch Kaffee?»
    «Danke», sagte sie und
strahlte, als hätte ich ihr ein Geschenk gemacht. Das Lächeln wich schnell
wieder aus ihren Augen, und sie preßte die Lippen zusammen, als sei es ihr
peinlich, beim Lächeln ertappt worden zu sein. «Mein Bruder ist Eugene Paul
Mark Devens.» Wieder hatte ich das Gefühl, sie erwarte eine stärkere Reaktion
meinerseits, als sie bekam. Ich fragte mich, ob sie immer seinen vollen Taufnamen
nannte.
    «Wie lange ist er schon
verschwunden?»
    «Ganze zehn Tage», sagte sie,
ohne den Versuch zu machen, ihre Besorgnis zu verbergen. «Und er hat sechzehn
Jahre mit mir zusammengelebt, seit seine Frau gestorben ist.»
    «Und?»
    «Das ist alles. Es ist kaum
vorstellbar, geschweige denn zu glauben, aber den einen Tag war er noch da und
am nächsten nicht mehr.»
    «Hatten Sie, hm, irgendwie
Streit?»
    «Ich bin kein besonders
streitbarer Mensch, Miss Carlyle.» Sie glättete ihr weißes Haar und schaukelte
sacht vor und zurück. «Offengestanden bin ich mit meinem Latein am Ende.»
    «Wie steht’s mit der Arbeit?»
fragte ich. «Arbeitet Ihr Bruder?»
    «Ja sicher, er ist Fahrer beim
Green & White-Taxiunternehmen, meist nachts. Darum reden wir auch
nicht soviel miteinander, wie Bruder und Schwester sollten. Die Schichten,
wissen Sie. Ich bin selbst eine vielbeschäftigte Frau mit meinen vielen
ehrenamtlichen Verpflichtungen und so, und unser Tageslauf war — also unser
Tageslaufist grundverschieden.»
    Green & White. Bingo.
Mir ging ein Licht auf. Daher kam mir der Name Devens bekannt vor. An das
Gesicht des Typen konnte ich mich kaum erinnern, dafür aber um so besser an den
Geruch seiner Zigarren. Ich war eine Zeitlang gleichzeitig mit ihm bei G&W
beschäftigt gewesen, aber die Teilzeitfahrer und speziell solche wie ich, die
«College Kid» betitelt wurden, hatten kaum etwas mit den Berufsfahrern zu tun
gehabt.
    Green & White. Die
hatten mich also empfohlen. Auf die dicke Gloria in der Zentrale bei G&W
war Verlaß. Eines Tages würde sicher einer meiner alten Polizeikollegen
jemanden zu mir schicken. Ich konnte es kaum erwarten.
    «Ein Taxifahrer.» Miss Devens
schürzte die Lippen und schüttelte traurig den Kopf. «Er hätte mehr aus sich
machen können, darüber besteht kein Zweifel. Wenn je ein Junge talentiert war,
dann Eugene. Ich kann nicht behaupten, daß er faul war, aber er hatte immer
seinen eigenen Kopf und keine Lust, sich anderen zu fügen. Weder seiner Mutter
noch seiner Frau, noch seiner großen Schwester natürlich... Aber das tut jetzt
nichts zur Sache. Ich habe meinen Bruder am Mittwoch, den io. September zum
letztenmal gesehen, ehe er zur Arbeit ging. Seitdem habe ich ihn nicht mehr
gesehen.» Ihre Hände krampften haltsuchend ineinander. «Soll ich das für Sie
aufschreiben?»
    «Das behalte ich so. Ich habe
ein gutes Gedächtnis.» Wenn ihm auf die Sprünge geholfen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher