Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Carlotta steigt ein

Carlotta steigt ein

Titel: Carlotta steigt ein
Autoren: Linda Barnes
Vom Netzwerk:
Schals
und Tücher, Armreifen und Hüte dienten allesamt als Panzer.
    «Was genau wollen Sie?» fragte
ich. «Wollen Sie wissen, wo er steckt? Mit ihm reden, ihn sehen? Wollen Sie,
daß er zurückkommt?»
    «Ich möchte, daß Sie ihn
finden», sagte sie lächelnd, nickend, ganz aufgeregt. «Sonst nichts.»
    «Frauen?»
    «Möglicherweise.» Sie errötete
sittsam, und einen Augenblick lang fragte ich mich, ob ich mir das Ganze nicht
bloß einbildete. Ich meine: Sie saß ja tatsächlich in Tante Beas Stuhl.
Vielleicht wirkte das wie eine Art Rückblende auf mich. Mit Sicherheit ließ
nichts in ihrem Benehmen auf etwas anderes schließen als eine freundliche alte
Schachtel, die aus der Kirche kam und sich über ihren Bruder beruhigen wollte.
    Also erwähnte ich die schlimmen
Möglichkeiten mit keinem Wort — die Krankenhäuser, die Kühlladen im
Leichenschauhaus — , weil sie so nett errötet war, aus Ehrerbietung ihrem Alter
gegenüber und wegen ihres Gesichtsausdrucks beim Blick auf das Foto ihres
Bruders. Ich habe keinen kleinen Bruder, aber so etwas wie eine kleine
Schwester, und ich habe das dumpfe Gefühl, daß ich auch so verträumt
dreinschaue, wenn ich Paolinas Schulfotos betrachte.
    «Wie hoch ist Ihr Honorar?»
fragte sie.
    Ich warf einen raschen Blick auf
ihre Schuhe. Bei Klienten, die bei mir den vollen Preis bezahlen, handelt es
sich meistens um Scheidungsanwälte mit Korduanlederslippern Marke «Gucci».
Margaret Devens trug orthopädische Omaschuhe mit abgetretenen Absätzen,
vielgetragen, häufig aufpoliert, von schäbiger Eleganz. Meine
Honorarvorstellungen schrumpften in sich zusammen.
    «Ich bin kein Sozialfall»,
sagte sie bestimmt. «Sagen Sie mir den gleichen Preis, den Sie den Reichen
sagen. Ich habe viel Geld. Was zahlen Ihnen die Reichen?»
    «300 pro Tag plus Spesen»,
sagte ich und ging damit 100 unter das Spitzenhonorar. «Aber bei Fällen mit
vermißten Personen nehme ich normalerweise einen Spesenbetrag im voraus und
eine Pauschale bei Erledigung des Falles. Vielleicht finde ich ihn mit einem
winzigen Telefonanruf. Vielleicht auch nie.»
    «Genügen tausend Dollar als
Abschlag? Oder als Vorschuß, wenn Sie so wollen?»
    Ich nickte. Es waren zwar nicht
die zwanzig Katzenriesen, aber immerhin genug, um ein paar fällige Rechnungen
zu begleichen.
    Ich erwartete, daß sie nun ihr
Scheckbuch vorziehen würde, aber sie holte eine dicke lederne Geldbörse aus
ihrer Handtasche. Sie versuchte sie hinter der Tasche vor meinen Blicken zu
verbergen.
    Aufrecht sitzend konnte ich
klar und deutlich einen riesigen Packen Scheine erkennen. Sie zog zehn
Hunderter heraus, strich sie glatt und legte sie ordentlich auf den Plätzchen
teller.
    Verstehen Sie mich also nicht
falsch. Ich behaupte keineswegs, daß mir nicht von Anfang an etwas faul
vorgekommen wäre.
     
     
     

2
     
    «Proletarier aller Länder, vereinigt
euch!» stimmte ich mit deutlicher Aussprache an.
    «Fluffy will trinken»,
quietschte Red Emma. Als sie mein Mißfallen sah, versuchte sie’s noch mal.
«Fluffy ist ein Schmutzfink», sagte sie.
    «Fluffy ist blöd», erwiderte
ich.
    Ehrlich gesagt habe ich sie nicht
nur deshalb umbenannt, weil sie so viel kreischte. Die «Red Emma», die «rote»
Emma Goldman, berüchtigte Anarchistin der frühen zwanziger Jahre, war ein Idol
meiner Mutter. Auch von mir, möchte ich behaupten, obwohl ich sie eher wie
Maureen Stapleton in Reds sehe. Ich bin mit den ruhmreichen Geschichten
aufgewachsen, die meine Mam von ihrer Mam und dem Streik der New Yorker
Textilarbeiter erzählte. Meine zukünftige Großmutter haute offenbar einem
Streikbrecher eins über den Schädel, wurde dabei erwischt und verbrachte die
Nacht im Kittchen der Bowery. Wenn meine Mutter davon erzählte, hatte es ganz
den Anschein, als sei diese Nacht im Gefängnis eine Art Tapferkeitsmedaille
gewesen — mein Vater nannte Großmutter schlicht eine Knastschwester. Als ich
älter war, merkte ich, daß mit diesen Worten immer ein Streit anfing, und dann
setzte ich mich auf die Frontveranda, bis keine bissigen Bemerkungen und Tassen
mehr durch die Luft flogen.
    Vielleicht konnte ich Emma das
Fluchen beibringen. Schmutzige Wörter machten ihr offenbar keine
Schwierigkeiten.
    Wenn ich ihr beibrachte,
verständlich zu fluchen, konnte ich sie das nächste Mal ans Telefon lassen,
falls mich wieder einmal so eine Krankenhaus-Telefonzentrale irgendwo in der
Leitung kaltstellte, bevor ich noch Protest äußern konnte.
    Wie Sie richtig vermutet
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher