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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Autoren: Jens Steiner
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Telefontischchen, büschelte die Zeitschriften. Der Mann redete ohne Punkt und Komma. Ich ging wieder nach draußen, zu den Setzlingen. Ich arbeitete wie verrückt. Als ich mich nach einer halben Stunde zwischen Töpfen, Harke und Gießkanne erhob und den Rücken durchstreckte, hörte ich den Nachbarn an der Tür. Nun sprach er über unser Tennisgenie, das seit ein paar Wochen spurlos verschwunden war. Der Junge besaß eine Villa mit viel Umschwung am Hügel oben, war aber noch nie im Dorf gesehen worden. Steueroptimierung sei sein einziges Ziel, pflegte Edgar zu sagen. »So ein Star ist ja für unsereiner ein Buch mit sieben Siegeln«, krächzte nun der Nachbar an der Tür. »Was wollen die überhaupt? Anderer Stern, wenn Sie mich fragen.« Edgar sagte nichts. »Also dann, tausend Dank und bis zum nächsten Mal.« Edgar antwortete einsilbig, die Tür schloss sich. Ich wollte dem Mann nicht begegnen und versteckte mich hinter dem Flieder. Später ging das Fenster auf und Edgars Kopf erschien. »Kleines Gemüsecarpaccio zum Anfangen, gefolgt von Spaghetti alla puttanesca«, verkündete er. Ich nickte. Bevor sein Kopf verschwand, sagte ich: »Warten wir auf Renate. Bitte.«
    Um sechs war sie noch immer nicht da. Wieder Edgars Kopf am Fenster, ich zuckte mit den Schultern. Als ich das Werkzeug aufzuräumen begann, sah ich eine Bewegung am Gartentor. Bestimmt ein Kind, dachte ich. Sie spielten manchmal Räuber und Gendarm um unser Haus herum. Ich wischte die Erde zu einem Häufelchen, stapelte leer gebliebene Töpfe. Dann wieder die Bewegung. Ich tat ein paar Schritte um den Flieder herum. Und begriff endlich. Ein Kind, ja, aber ein großes. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Da stieg unsere Tochter heimlich durch das Fenster ins Haus. Sie rutschte auf dem Sims aus, ächzte, ich sah einen glänzenden Streifen auf ihrer Wange, und schon war sie drinnen. Ich stand zwischen Blumentöpfen, Fahrradständer und Haustür. Tausend Fragen wie Blitze hinter meinen Augen. Ich schmiss die Gartenhandschuhe hin, stolperte hinein, eilte die Treppe hoch. Im Badezimmer lief Wasser. Ich klopfte an.
    »Darf ich reinkommen?«
    Ich wusste, dass sie da war.
    »Renate. Lass mich rein.«
    »Nein.«
    »Ich will dir helfen.«
    »Warum?«
    »Bitte! Ich habe dich gesehen. Du hast geweint.«
    »Ich weine nie.«
    »Aber. Du. Hast. Nicht?«
    Ich wartete. Sie sagte nichts.
    »Bitte mach auf.«
    Ich hörte ein Schniefen.
    »Ist es wegen Pascal?«
    »Was für ein Pascal?«
    »Na. Jetzt. Also. Pascal eben.«
    »Kenn ich nicht.«
    »Renate. Bitte.«
    Ich wusste nicht wohin. Hilfe, dachte ich. So helfe mir wer!
    »Ach. Renate. Ich komme nachher nochmal.«
    Wir aßen ohne sie. Vom Badezimmer drangen Geräusche nach unten. Wasser lief, der Föhn brüllte, dann wieder Wasser, die Spülung, die elektrische Zahnbürste. Bestimmt heult sie die ganze Zeit ins Frottétuch, dachte ich und stocherte in Edgars Carpaccio herum.
    Edgar aß und schwieg.
    Ich sagte: »Was ist denn, ich meine, warum …? Nein, egal.«
    »Wie bitte?«
    »Ich, äh. Ach, vergiss es.«
    Ich hob die Gabel an den Mund und pustete.
    »Das Carpaccio ist bereits kalt.«
    »Ach, wie blöd von mir«, sagte ich, »natürlich!«
    Edgar legte seine Gabel hin und starrte mich an. Wieder Blitze in meinem Kopf. Ich packte die erstbeste Frage: »Ich wollte sagen, ich meine, wie hieß dieser Mann nochmal?«
    »Schober.«
    »Ah. Und, äh, was wollte er?«
    »Hat von dem Unfall erzählt und seine Theorie dazu entwickelt.«
    »Was für ein Unfall?«
    »Ach, stimmt, ihr wart weg. Du hast es nicht gehört. Eine Explosion bei der Fabrik.«
    »Huch. Was ist denn explodiert?«
    »Einer der Gastanks. Es gab einen Mordsknall. Alle waren da, das ganze Dorf.«
    »Oh.«
    Ein grollendes Plätschern über unseren Köpfen. Ich hob den Blick an die Decke und seufzte. Edgar stand auf, um die Spaghetti ins kochende Wasser zu geben.
    Wir sind keine strengen Eltern, aber wir haben ein paar Prinzipien. Wir versuchen, unserer Tochter Werte zu vermitteln. Wir sagen ihr: Du hast deine Integrität als Person und wir haben unsere. Wir wollen, dass du unsere Integrität respektierst, aber wir und alle anderen haben deine Integrität ebenfalls zu respektieren. Du magst nicht auf Anhieb wissen, worin diese bestehen soll, aber du wirst es wissen, wenn jemand sie nicht respektiert. Dann sollst du mit uns reden. Es ist wichtig, dass du mit deinen Eltern darüber sprichst. Es geht um deine Würde als Mensch und als Frau.
    Unsere Tochter
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