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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Autoren: Jens Steiner
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im Haar eines nur halb sichtbaren Menschenkopfs, der sich knapp über die Brüstung eines Balkons erhob, gleich oberhalb des Dorfladens. Dann sank die Hand weg, und kurz darauf stieg Zigarettenrauch in die Höhe. Noch nie hatte sie darauf geachtet, wer sich da oben aufhielt. Nun stellte sie sich vor, wie dieser Mensch sich nach unten fortsetzte. Es ergab ein genaues Bild: matte grüne Augen, violette Knollennase und ein Mund, der jede Beschreibung von sich wies, weiter unten ein Schildkrötenhals, auf einem massigen Körper sitzend, unter dessen grauer Haut Schichten von Fett lagen. Sie waren vom ewigen Sitzen und Warten regelrecht verhärtet. Wie Jahresringe hatten sie sich über ein Skelett gelegt, das das Gewicht kaum mehr tragen konnte, weshalb der Mensch den ganzen Tag auf seinem Balkon saß, ohne ein einziges Mal aufzustehen, und käme eines Tages einer und stäche eine feine, hohle Nadel in diese Fettmasse, könnte er einen Bohrkern herausholen, der davon erzählte, wie dieser Mensch zum Stillstand gekommen und seiner eigenen Geschichte, aber auch der Geschichte des Dorfes nie mehr entronnen war, wie das Dorf selber, einer Wucherung gleich hoffnungsvoll und gleichzeitig im Krepieren begriffen, immer wieder in eine ungewollte Gegenwart stolperte, wie es seine eigene Vergangenheit begrub, wie seine Bewohner sich mit Wörtern gegenseitig Wunden schlugen und jede neue Generation die ältere bestrafte, und lauschte dieser Geologe des Fetts während seiner Untersuchung dem leisen Stöhnen des Menschenbergs auf dem Balkon über dem Dorfladen, vernähme er darin die Klage des Dorfes, dass es im Begriff sei, seine Seele zu verlieren, denn bald gäbe es hier niemanden mehr, der auf einen Anfang warte, stattdessen mache man nur noch Anfänge und vergesse, was Warten heiße, doch das Warten sei die Seele des Dorfes, das Warten auf nichts und alles, das Warten auf dass endlich etwas passiere.
    Das Stöhnen des Mannes auf dem Balkon schwebte ungehört durch die Straßen. Ein Sommernachmittag nahm seinen Lauf. Munter und träge zugleich, sorglos und zaudernd. Nichts passierte. Alles passierte.

Zum Buch
    Da sind die drei Jugendlichen, die Pläne aushecken für die bevorstehenden Schulferien und dabei genau wissen, dass auch dieses Jahr nichts geschehen wird, da ist die Troika, die sich regelmäßig zum Carambole-Spiel trifft, da ist Schorsch, der immer dann auftaucht, wenn man ihn nicht erwartet, und da sind die beiden verfeindeten Brüder, die seit jenen Erbschaftsstreitigkeiten nie mehr miteinander gesprochen haben. Im Dorf verharren die Menschen in ihrem Alltag wie gelähmt, während sich um sie herum alles verändert: Restaurants schließen, neue Wohnviertel entstehen, soziale Netze zerbrechen, Familien fallen auseinander.
    In zwölf Runden nähert sich Jens Steiner diesem sozialen Gefüge an, lässt die Dorfmenschen in ihrer Hilflosigkeit erstarren und öffnet ganz kleine Lücken, durch die hindurch ein Schritt in eine – wenn auch unsichere – Zukunft möglich wäre.
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