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Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)

Titel: Carambole: Ein Roman in zwölf Runden (German Edition)
Autoren: Jens Steiner
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dieser Mann, war der Forensiker fortgefahren und hatte den Finger auf Schorschs Stirn gelegt, dieser Mann sei völlig gesund gewesen. Ja, hatte er geantwortet, das könne er bestätigen, Schorsch habe keine Gebrechen gehabt, soviel er wisse. Der Forensiker hatte noch immer den Zeigefinger auf der Stirn gehabt und ihn lauernd beäugt, worauf er selbst sich im Raum umgeblickt hatte, um dem Blick des Forensikers nicht zu begegnen. Die toxische Analyse steht noch aus, hatte der Forensiker schließlich gesagt und den Finger von Schorschs Stirn gehoben. Sie hören von mir.
    Halte dich an die Details, sagte er sich. Die Bauweise der Scheune, die Maschine unter dem Vordach. Er wollte sich weder an den Morgen noch an frühere Tage erinnern, sondern sich bloß diesen Ort einprägen. Ich bin Paläontologe, dachte er. Ich habe mein Leben lang in der Vergangenheit gegraben, aber jetzt will ich nur noch Gegenwart. Diese eine Scheune und ihr eingeknicktes Giebeldach, die rostige Schiene des Schiebetors, die Absperrbänder, die Moosflecke am Abflussrohr. Nur wenn man bei den Details bleibt, begreift man die Schönheit der Gegenwart. Und in dieser Gegenwart, dachte er, gibt es einen Freund. Zwei wären schöner, aber einer geht auch. Er sah sich den Zwetschgenbaum neben der Scheune an, die geschorene Wiese mit den weiß verpackten Heuballen, die Haselsträucher am Bach, das Sträßchen, auf dem sie gekommen waren, er drehte sich weiter um, sah die letzten Häuser des Dorfes, Gärten, eine riesige Fichte, die ihm noch nie aufgefallen war, ein alter Wohnwagen und weit oben die Kreuzung, die viel zu groß war für diese zwei Straßen und auf der sich nun etwas bewegte, ein Mensch, eine Frau, ja, da stand eine Frau mitten auf der Kreuzung. Tanzte sie? Wollte sie den Verkehr aufhalten, den es nicht gab? Ihre Hände bewegten sich nervös. Ihre Füße schienen in jedem Moment losmarschieren zu wollen, um kurz vor dem ersten Schritt nochmals die Richtung zu ändern. Er sah es nicht, denn sie war zu weit weg, doch er stellte sich vor, dass sich ihre Augen nach oben wandten, Richtung Himmel, zwei Augen, in denen eine Erwartung saß, die zugleich eine Leere war, die Pupillen große, dunkle Wartesäle, in die der Himmel nun eintrat, er passierte die gläserne Linse und drang in die Netzhaut, die umgehend von feinen elektrischen Regungen durchflimmert wurde, die ihrerseits weiter durch den Sehnerv schossen, schneller als ein Zwinkern, und schließlich in die Großhirnrinde gelangten. Dort zeichneten sie ein scharfes Bild von der leeren Kreuzung, von diesem Sommertag, von der Gegenwart.
    Himmelblau, grasgrün, sonnenblumengelb. Wie schön, dachte die Frau. Doch worum geht es hier eigentlich, und welche Richtung muss ich einschlagen? Ich kann nicht auf dieser Kreuzung stehen bleiben. Jeder sieht, dass ich nicht hier stehen bleiben kann, und doch komme ich nicht weiter. Man muss wissen, was Sache ist, sonst kann man im Leben keinen Schritt tun. Aber ich weiß überhaupt nichts. Ihre Füße tänzelten noch immer. Sie dachte an das Ende und den Anfang, die sich an diesem Punkt in ihrem Leben trafen, an ihren Mann und ihre Tochter, die sie vor wenigen Tagen verlassen hatten. Die Tochter war mit ihrer besten Freundin in die Ferien gefahren, ihr Mann war für ein paar Tage bei seinem Bruder. Das war nicht ungewöhnlich. Dennoch wusste sie, dass diese Abwesenheit von Mann und Tochter das Ende von etwas waren. Würde ihr Leben von jetzt an ein anderes sein? Hatte sie sich das nicht insgeheim gewünscht? Sie war ratlos. Wenn jetzt jemand aufgetaucht wäre, hätte sie sich ohne zu zögern an ihn gehängt und wäre mit ihm gegangen, wohin auch immer. Doch niemand kam. Sie blickte sich um. Musterte die Zapfsäulen der Tankstelle auf der anderen Straßenseite, das große Tor der Autowerkstatt, das heute geschlossen war. Diese menschenleere Tankstelle, sagte sie sich, sie hilft mir nicht weiter, der Vorplatz der Molkerei etwas weiter vorne, die bald für immer schließt, weil es nicht mehr genügend Genossenschafter gibt, auch er bleibt stumm, noch weiter vorne der nun kinderlose Kindergarten und Josts Bäckerei. Alle unbeweglichen Teile des Dorfes ruhen in sich, dachte sie. Als ob es auf dieser Welt nie einen Anfang gegeben hätte, nie ein Ende gäbe. Sie blickte an der Bäckerei vorbei und dachte: Ich schaue nicht richtig hin, deshalb bleibt alles stumm. In diesem Augenblick realisierte sie, wie sich weiter vorne in der Höhe etwas rührte. Eine Hand wühlte
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